Personification.
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schaltete, desto grösser wurde die Zahl dieser allegori-
schen Wesen, ohne dass jedoch selbst bis zu den letzten
Zeiten des Heidenthums ein deutliches Bewusstsein über
die Erzeugung derselben im Volke entstand. Man dachte
sich, wenn man es auch nicht so aussprach, die morali-
sche Welt ebenso wie die physische Natur, als eine
Fülle einzelner, menschenähnlicher, selbstständiger Figu-
ren, und die Einführung derselben durch die Kunst er-
schien mehr eine Entdeckung als eine menschliche Erfin-
dung. Die bildende Kunst machte von diesen Gestalten
nicht weniger Gebrauch, als die Poesie, ja sie bedurfte
derselben in noch höherem Grade. Denn da es den
Griechen nicht einfallen konnte und ihre Kunstrichtung
es nicht gestattete, das Feinste psychischer Bewegung
in den Gesichtszügen und im Auge darzulegen, so War
es nothwendig, Gestalten herbeizuführen, in welchen sich
das Gefühl des Augenblicks verkörperte. So finden wir
auf Vasengelnältlen über der Darstellung von Männern
und Frauen beim fröhlichen Gelage einen Genius mit der
Beischrift: Pothos, die Begierde. S0 war auf einem alten
Gemälde , dessen Beschreibung Plinius giebt , neben
Priamus und Helena die Leichtgläubigkeit, neben Ulysses
und Deiphobos der Betrug in verkörperter Gestalt. Aehn-
liehe Allegorien auf neuern Bildern erscheinen uns matt
und ungenügend, weil der Künstler selbst ebensowenig
wie sein Publikum an die Wirklichkeit dieser. Gestalten
glaubt, die Griechen aber wurden sich dieses Zweifels
nicht bewusst und ihre Phantasie stattete sie daher leicht
mit
allem
Leben
der Wirklichkeit
aus.
Daher finden wir
denn auch auf den griechischen Bildwerken diese Perso-
nificationen stets mit mythisch-hist0rischen Gestalten
verbunden, und Compositionen von lauter allegorischen