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Griechische
Plastik.
vorzugsweise eignen, rein und ungeniischt ausgeprägt
sind. Hier mögen wir denn wohl anerkennen, dass für
unser modernes Gefühl beide Geschlechter nicht völlig
gleich begünstigt sind, dass die weibliche Seite des
olympischen Kreises weniger vollkommen ist, ja dass
vielleicht eben die liebenswürdigsten und eigenthümlielr-
sten Züge des weiblichen Charakters fehlen. Denn wenn
auch in der Aphrodite der Liebreiz jugendlicher Anmuth,
in der Hera das Selbstbewusstsein hoher weiblicher
Würde , in Dcmcter endlich sogar ein nnverkennbarcr
Zug mütterlicher Liebe, wiewohl nicht mit aller Wärme
dieses Gefühls, ausgedrückt ist , so fehlt uns immer die
Gestalt der eigenthüinlich weiblichen Zartheit und Demuth.
Wir verstehen aber diesen Mangel, wenn wir uns daran
erinnern, dass dieser Zug sich mit den Begriffen gött-
licher Hoheit und Selbstgenügsamkeit nicht vertrug,
und dass überhaupt in der griechischen Sinnesweise dem
männlichen Element eine vorherrschende Stellung einge-
räumt war. In der 'I'hat bietet uns dagegen die männ-
liche Seite dieses Götterkreises die höchsten und (lurclr
aus unübertroffenen Idealgestalteil ruhiger, besonnener
Macht und Herrscherwürde, jugendlicher Vollkraft und
Begeisterung, männlicher Ausdauer und Stärke dar. Be-
sonders bezeichnend für die Weise, wie die griechische
Phantasie in ihrer unbewussten Körperdichtung verfuhr,
sind jene Gestalten, in welchen sich die Eigenthümlich-
keiten beider Geschlechter vermischen. Weiche, trunkene
Sinnlichkeit würde eines rein männlich gehaltenen Cha-
rakters ebensosehr als einer weiblichen Göttergestalt
unwürdig sein. Jene 'l'runkenheit aber als die Begeiste-
rung eines Jünglings, jene Weichheit als ein Zug weib.
licher Empfänglichkeit aufgefasst, verletzen unser Gefühl