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Griechische
Plastik.
Noch entschiedener wie die Dichter fassen die Bild-
ner die Götter nur in diesem edlern Sinne auf 5 die Con-
sequenz auf eine moralische Deutung der Mythen liegt
ihnen noch ferner. Für sie gilt nur das Gegenwärtige,
die Beziehung der Götter auf die Menscheny das Ver-
gangene, die wandelbare, vieldeutige alte Mythe bleibt
neben der festen Gestalt des Bildes nur wie ein däm-
mernder phantastischer Hintergrund. WVenn Homer und
Hesiod die Götter zu bilden begonnen hatten, so setzten
die plastischen Künstler dies Werk fort. Unter ihrem
Meissel wurden denn die Götter eine Reihe von Ideal-
gestalten, Vorbilder göttlich menschlicher Hoheit, vollen-
dete Erscheinungen der verschiedensten Charaktere, so
weit wenigstens der Grieche diese Verschiedenheit be-
achtete. Denn jene unendliche Reihe von Abstufungen
der Charaktere, welche bei uns durch die Anregung und
Begünstigung der persönlichsten Gefühle entsteht, war
der griechischen Welt noch fremd, für sie kam es nur
auf die regelmäslsigen und natürlichen Gegensätze an.
Die ursprünglichste Verschiedenheit des Charakters ist
nun die des männlichen und Weiblichen. Auf einer Stufe
sittlicher Weltansicht, welche die geistige Freiheit nicht
anerkennt, muss sie als bleibender und einziger Gegen-
satz erscheinen, wie wir dies wirklich in der ägyptischen
Kunst fanden. Bei einem feinem Blicke für die Mannig-
faltigkeit der menschlichen Natur zeigen sich aber man-
che Verbindungsglieder und Abstufungen. Schon die
Lebensalter bilden einen Uebergang; im Jüngling und in
der Jungfrau haben beide Geschlechter noch manches
Gemeinsame, nur auf der Höhe des Lebens ist ihre ganze
Verschiedenheit fühlbar, im Alter nähern sie sich wieder.
Noch feinere Uebergänge finden sich aber durch die man,