Schlussbetracht-u-xlg.
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Diese Beschränkung begünstigt offenbai die Ent-
stehung der bildenden Kunst. Um sich der Nathr so
hinzugeben, ihre Formen empfangend aufzunehmen, sie
mit geduldiger Ruhe organisch auszubilden , bedarf es
eines Geistes , der nicht im hochstrebenden Freiheits-
drange die Natur nur berührt, um sich über sie hinaus
zu schwingen. Allein auch die bildende Kunst erfordert
die Freiheit und Selbstständigkeit eines nicht bloss em-
pfangenden, sondern auch reagirenileil Geistes. Der
Geist Aegyptens ist noch zu sehr gebunden, seine Un-
freiheit ist auch ein Mangel seiner bildenden Kunst.
Damit die Architektur sich ausbilde, muss das Be-
wusstsein absoluter Herrschaft des Geistes über die
Materie, damit die Plastik und Malerei sich ganz ent-
wickele, das Gefühl für Freiheit und Selbstständigkeit
erwacht sein. Höhere Freiheit und Klarheit des Geistes
muss sich mit naiver Natürlichkeit paaren , wenn die
bildenden Künste über den Standpunkt, den sie bei den
Aegyptern einnahmen, hinaus schreiten sollen.
Es bedurfte hiezu eines andern, reicher ausgestatte-
ten Volkes. Die Richtungen und Gaben, welche bei den
frühem vereinzelt waren, mussten sich vereinigt finden.
Die Vollkraft der Inder musste durch geistige Abstraction
wie bei Persern und Juden geläutert, durch strenge Zucht
und Stätigkeit, wie bei den Aegyptern, gekräftigt er-
scheinen. Jener Geist der Sonderung durfte nicht zu ein-
seitig uralten, nicht sich vom Boden der Natur losreissen,
aber die hingebende Liebe zur Schöpfung durfte auch
nicht in die Unbeweglichlzeit der todten Natur übergehen.
Der Verschmelzung dieser Richtungen stand aber ein
gemeinsamer Mangel der orientalischen Völker entgegen,
der Mangel des Gefühls der Persönlichkeit, der Freiheit.