454-
Aegyptische
Sculptur.
Kam selbst das geistig so hoch begabte Volk der Inder
nur zu jener schwankenden Gestalt, so schien der freien
Einsicht des Geistes nichts übrig zu bleiben, als sich
entschieden von der Natur loszusagen, wie es von den
westasiatischen Nationen geschah.
Der Mittelweg, den die Lenker des ägyptischen
Volkes einschlugen, war daher das Werk einer wahrhaft
genialen Einsicht, auf welche aber auch die eigenthiim-
liche Natur des Landes hindeutete, indem sie selbst Ein-
heit und Regel, Ordnung und Maass lehrte. Hier bildete
sich daher eine Weltansicht, welche lliCht im Gegensatze
gegen die Natur stand, sondern aus ihr hervorging, und
zugleich ihr Gebicter und Beherrscher wurde. Daher
erhielt hier das sittliche Wesen die feste Gestaltung der
N aturverhältnisse. Die Sinnlichkeit wurde gebändigt,
zum 'l'hatkräftigen ausgebildet, das geistige Princip er-
schien als höhere Ordnung der Natur, nicht als egoisti-
sche Einseitigkeit.
VVir sehen, wie dieser Vorzug auch die Beschrän-
kung des Zustandes enthält. Gefesselt an die äussere
Natur konnte der ägyptische Geist sich weder zu den
hohen Philosophemen und den phantasievollen Dichtungen
Indiens noch zu der gediegenen Wahrheit und dem
Ilymnus des Judenthums erheben. Der Verstand sowohl
als die Phantasie
begabten Volke,
über die äussere
waren zwnar, als bei einem geistig hoch-
lebendig, aber sie erhoben sich nicht
Welt. Eben so ist die Sittlichkeit eine
beschränkte, für höhere Läuterung der Seele nicht ge-
eignet; die Satzung, eben weil sie aus der Natur her-
vorgeht, hat eine sinnliche Ilärte, einen Charakter der
Unfreiheit, welcher auf allen ACUSSONIIIgCII des Geistes
lastet.