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Aegyptische
Sculptur.
schreitens der menschlichen Natur gegeben wird. Der
Geist ist überall Leben und Bewegung; er strebt zwar
nach. einer Regel, aber werm er sie erlangt hat, darf er
nicht in ihr erstarren. Bei den Aegyptern war die Regel
enger und fester als bei andern Völkern; um so erwünsch-
ter ist es deshalb, wenn sie sich darüber erheben und
wenn die unvertilgbare Lebendigkeit der menschliehen
Natur sich frisch und unbefangen äussert.
Schlussbetrachtung.
Die ägyptische Sculptur ist ihrem Geiste und ihrer
Ausführung nach architektonisch. Auf den weithin ge-
streckten Wänden kann sie etwas freier in kriegerischem
Leben sich entwickeln , wenn sie nur die Linien der
baulichen Ordnung beobachtet; aber in freistehenden Sta-
tuen dient sie der Architektur und ist ihr untergeordnet.
Jene sitzenden Kolosse vor den Pylonen haben , wie
diese thurmartigen Bauten selbst, nur den Zweck, die
Würde des Ortes anschaulich einzuprägen; die Sphinx-
alleen sind noch mehr bloss architektonische Bezeichnun-
gen des Zuganges; jene stehenden Gestalten an den
Pfeilern der V orhöfe folgen aufeinander wie Säulenreihen,
ja noch gleichförmiger. Andrerseits kann man aber ebenso
von der aegyptischen Architektur sagen, dass sie sich
mehr als die Baukunst andrer Völker an die S culptur
anschliesst. S0 regelmässig und strenge sie ist, so kennt
sie doch keine frei erfundenen, rein geometrischen Ver-
zierungen, sondern hält sich immer in dem Kreise der
N atumachahmung. Wir sprachen schon von den Pflan-
zenformen der Säulen. Sie sind architektonische Glieder,
denn sie tragen, und dadurch unterscheiden sie sich von