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Verhältniss
Natur.
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leben ist noch eine unbekannte Region. Daher bildet
sich denn auch der merkwürdige Unterschied, dass die
Reliefs bewegt, reich, mannigfaltig, die Statuen aber
starr und gleichförmig sind. Die Statue ist die Gestalt
des Menschen in seiner Selbstständigkeit, ihr giebt erst
der persönliche Charakter den abweichenden Ausdruck.
Nimmt man der menschlichen Gestalt dies persönliche
Element, so bleibt nur die allgemeine Regel der ganzen
Gattung übrig, das harmonische Verhältniss der Glieder,
der Körper als architektonisches Kunstwerk der Natur.
Dies erklärt denn auch ganz jene feste Regel, welche
die ägyptischen Bildner, nach Diodors angeführter Erzäh-
lung, zum Grunde legten. In allem Architektonischen
bildet sich ein Zahlenverhältniss, das man zur Erleich-
terung der Arbeit anwendet; hier unterlag auch der
menschliche Körper einem solchen Kanon, der um so
fester wurde, je grösser die Schwierigkeit ist, ihn nach
freiem Augenmaasse richtig auszuführen.
Wir sehen leicht, wie alles zusammenhängt. Durch
jenen festen Kanon wurde es möglich, Gestalten von
den kolossalsten Dimensionen mit Leichtigkeit richtig
darzustellen. Aus derselben Richtung aber, welche diesen
Kanon entstehen liess, musste auch die Neigung zum
Kolossalen hervorgehen. Denn da man individuelles Le-
ben, Charakter und Seelengrösse nicht kannte, Wenigstens
nicht soweit anerkannte, um ihnen äussern Ausdruck zu
leihen, so musste das Bedürfniss, die Grösse des Gottes,
des Fürsten und Helden eindringlich darzustellen, auf
die körperliche Vergrösserung hinführen, welche denn
auch bei der ruhigen Haltung und bei der schönen Har-
monie der Verhältnisse, in welchen man den Körper auf.
fasste, einen würdigen und imponirenden Eindruck machte.