Plastik.
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Phantasie hatte eine der Ausbildung der äussern Gestalt
widerstrebende Richtung. Betrachten wir zunächst jene
beiden Cherubim, welche an der Bundeslade standen. Sie
waren i?) aus wildem Oelbaum geschnitzt, mit Goldblech
überzogen, grosse Gestalten, zehn Ellen hoch, um so mehr
kolossal erscheinend, als sie in einem Raume standen,
der nur die doppelte Höhe hatte. Ihre Flügel waren
ausgebreitet, jeder, wie es heisst, fünf Ellen lang, so
gross, dass der äussere Flügel jedes Cherubs die Wand-
ecke berührte, die beiden innern Flügel aber zusammen
stiessen, beide Flügelpaare also die beiden Endpunkte
und den Mittelpunkt der zwanzig Ellen breiten Hinter-
wand bezeichneten und die zwischen ihnen stehende
Bundeslade beschatteten. Diese kolossalen Gestalten im
engen Raume, ihre ausgebreiteten mächtigen Flügel, also
eine festgehaltene Bewegung, mussten einen schauerlichen
Eindruck machen, welcher indessen den jüdischen Be-
griffen des Allerheiligsten wohl entsprach. Ihre Gestalten
werden wahrscheinlich im Wesentlichen menschlich ge-
wesen sein. Denn als Menschen erscheinen die Engel
dem Abraham, dem Tobias, und an andern Stellen. Mensch-
lich gebildet, wenigstens aufrechter Gestalt scheinen
auch die Seraphim in der Vision des Jesaia denn
jeder hatte sechs Flügel, mit zweien bedeckte er sein
Antlitz, mit zweien seine Füsse, und mit zweien flog er M).
1. König 6, 23.
M) In den Sculpturen der ägyptischen Tempel linden wir häufig,
dass die Vögel einen Flügel verkehrt, nach vorn zngewendet tragen,
so dass er ihre Füsse bedeckt. Hinter den Göttergestalten findet
sich auch häufig eine knieeilde menschliche Figur mit ebenso vorwärts
gewendeten Flügeln, gleichsam die Gottheit beschirnlend, welche noch
näher an diese, die Bundeslade beschattenden Cherubim erinnert. Es
ist möglich; dass hier eine ägyptische Beminiscenz den Juden geblieben