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Indien.
eine wahre religiöse Begeisterung, niemals die Kunst,
niemals eine tiefere Philosophie hervorbringen. Seine Re-
ligion ist die der Furcht, seine Kunst sinnlicher Putz,
seine Philosophie eine moralische Nützlichkeits-Leln-e.
Aber die Phantasie bedarf der Begränzuilg. Folgt der
Geist ihrem fortschreitenden Triebe, so kommt er alsbald
ins Leere, die Gestalten sind nur Scheinbilder, seine
willkürlichen und verschwindenden Erzeugnisse. Ist nun
der Geist vollkommen gereift, sind in gesunder Ent-
wickelung alle seine Kräfte gleichmässig ausgebildet, so
hält die Vernunft mit der Phantasie gleichen Schritt,
und, wenn diese bildet, giebt jene Maass und Ilaltung.
Ist aber die Vernunft noch nicht so ausgebildet, eilt
jene voraus, so nöthigt zwar die Natur der Sache
Maass und Begränzung anzufügen; dann aber, obgleich
es wieder aus demselben menschlichen Geiste, aus der
Vernunft hervorgeht, bleibt es jenen Erzeugnissen äusser-
lieh, erscheint als Satzung, welche nicht das Wesen der-
selben durchdringt. Auf diese Weise etwa können wir
uns die Widersprüche des indischen Wesens erklären.
Aeusseruilgen der Phantasie, strebend, oft treffend, mit
jugendlicher Unbefangenheit, aber bald auch ausschweifend,
wild, verzerrt, jedenfalls weich und ohne Ilaltung; dann
wieder Aeusserungen des Verstandes, von phantastischer
Kühnheit begleitet, tief und scharf, aber maaslos erwei-
ternd oder eng begränzend und bald willkürlich und cou-
ventionell. So finden wir das zarteste Mitgefühl mit der
härtesten Kälte, die einfachste Mässigung mit der wil-
desten Aussehweifung, die tiefste VVeisheit und den
verständigsten Ausdruck mit dem Aberwitz einer conveu-
lionellen Satzung, mit einem Worte die grössesteu Ge-
gensätze mit einander verbunden.