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Indien.
zahlreiche Beweise, dass diese Kunst sehr gepflegt und
ausgebildet war. Ihre Sprache ist höchst Wohlklingend
und ihre langgezogenen, für die moderne Ungeduld er-
müdenden Verse, lassen auf einen künstlichen, gesange
artigen Vortrag, und auf ein kunstgeübtes Ohr schliessen.
S0 finden wir also, neben jenen Zügen anscheinender
Härte und Gefühllosigkeit, die Beweise eines sanften,
feinfühlenilen, ja selbst Weichlich sentimentalen Sinnesi).
Religion.
Die Quelle dieser wunderbaren Vermischung von
edeln und widerlicheii, feinen und rohen Zügen des indi-
schen Charakters ist die Religion. Wenn diese überall
die Seele des Volksgeistes ist , so findet dies bei den
Hindus in noch höherm Grade statt, sie übt nicht bloss
einen Einfluss auf alle anderen 'l'hätigkeiten, sondern sie
beherrscht sie Linmittelbar.
Es ist schwer das Wesen der Hindureligion kurz
zu bezeichnen, weil sie in jeder Beziehung höchst viel-
gestaltig ist. Bei allen Völkern ändern sich die religiösen
Vorstellungen im Laufe der Zeiten, natürlich aber da ,
wo eine bestimmte Offcnbarungsurkunde zum Grunde
liegt, weniger als da, wo die denkende und dichtende
ü) [Wir ihre äussere Civilisation können wir die WVorte eines
Mannes anführen, der Indien genau kannte, des Sir Thomas Munro,
der im Jahre 1815 auf die an ihn gerichtete Frage über die Noth-
wendigkeit Schritte zur Civilisation der Indier zu thun, erwiederte,
dass er die Frage nicht verstehe. XVenn ein gutes Ackerbau-System,
wenn die Fähigkeit zu produciren, was Bequemlichkeit und Luxus
erheischen, wenn Schulen zum Unterricht im Lesen und Schreiben,
wenn angeborene Güte und Gastfreundschaft, wenn vor Allem eine
höchst zarte Behandlung des weiblichen Geschlechtes zu den Merk-
malen eines civilisirlen Volkes gehörten, so ständen die Hindus an
Civilisatioxi nicht hinter den Europäern zurück.