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Indien.
für Wohlthätigkeit, Dankbarkeit, Gastfreundschaft, N äch-
stenliebe, gegeben. Selbst gegen den Feind, sagen die
Dichter, solle man Liebe üben, denn der Sandelbaum
erfülle noch die Axt , welche ihn fälle, mit WVohl-
geruch; selbst gegen die Niedrigsten, denn der Mond
bescheine auch die Hütte des Chandala. Toleranz gegen
Andersgläubige ist selbst Grundsatz der heiligen Bücher,
denn aus der Verschiedenheit der Religionsformen gehe
Gottes Grösse hervor, und der Himmel sei ein Pallast
mit vielen Thüren t). Vor Allem heilig sind die Familien-
verhältnisse. Die Ehe ist selbst eine Religionspflicht, nur
der Familienvater wird zu gewissen Opfern zugelassen,
nur der Sohn kann gewisse Todtenopfer für die Aeltern
bringen. Achtung und Liebe zwischen Aeltern und Kin-
dern äussern sich in den zartesten Zügen, und eine
grausame Sitte, die sich auch hier eingeschlichen hat,
der Kindermord an neugebornen Töchtern, der in manchen
Gegenden häufig vorkommen soll, damit die Unvermählte
dem Hause nicht Schande bringe, scheint erst aus jün-
gerer Zeit herzurühren. In den höhern Casten ist zwar
Polygamie gestattet, doch ist nur eine die eigentliche
Gattin, und ursprünglich scheint eine monogamische Ehe
geherrscht zu haben. Das Volk sieht zwar heute die
Frauen mit Verachtung an, in den Gedichten aber finden
wir sie mit grosser Zartheit geschildert, keusch, ergeben,
gebildet. Die Liebe des lilannes sowohl als der Jungfrau,
wird mit einer Wärme und Schönheit behandelt, wie bei
keinem andern der alten Völker. In allen ihren Gedichten,
besonders in den Dramen der Hindus, ist die Liebe ein
sehr wesentliches und ausgeführtes Motiv. Sie erscheint
plötzlich wirkend, tief und treu, und würde, wenn nicht
Bohlen
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