Die
Kunst
in
der
Geschichte.
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zu wissen, dass wir in dem Entwickelungsgange derKunst
auch das treueste Bild der fortschreitenden Hunlanität haben.
Wie die Entwickelung des Schönheitssinnes im All-
gemeinen der Entwickelung des menschlichen Geistes im
Ganzen, ebenso entspricht bei jedem einzelnen Volke
die Blüthe der einzelnen Künste in ihrer geschichtlichen
Folge den Bildungsstufen desselben. Hiebei sind aber die
speciellen Gesetze der einzelnen Künste und ihre Ver-
hältnisse unter einander zu beachten; indem der Einfluss
des allgemeinen Geistes der Nation durch diese modificirt
wird, und nicht unbedingt entscheidend ist. Die Künste
erblühen auch bei dem vielseitigsten Volke nicht alle
gleichzeitig. Vielmehr wie jede 'l'hätigkeit einseitig ist,
nach einer Richtung hin und von der andern ableitet, so
muss auch das Vorherrschen einer Kunst die künstleri-
schen Anlagen zu einer andern bleibend oder doch vor-
übergehend, ganz oder theilweise hemmen.
Die Gesetze dieser Entwickelung der einzelnen
Künste in historischer Folge bei einem einzelnen Volke
lassen sich etwa in Folgendem angeben; natürlich nur
im Allgemeinen, und abgesehen von den mehr oder min-
der bedeutenden Modificationen, welche die Verhältnisse
des bestimmten Volkes herbeiführen.
Zunächst geht bei jedem auch dem begabtesten
Volke, der Entwickelung der eigentlichen Kunst ein immer
langer, mehrere Jahrhunderte umfassender Zeitraum der
Vorbildung voraus. Wie der Kern im Schoosse der Erde
reift, wie jede Geburt eine stille und verborgene Vorbe-
reitung, ein ungestörtes Wirken der bewusstlosen Kräfte
erfordert, so muss auch das Naturelement des V olkes,
aus welchem seine Kunst hervorgehen soll, langsam
zeitigen. Wenn dies geschehen und der Moment gekom-