Die
Kunst
in
der
Geschichte.
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erreicht hatte, und das Ziel ist ein gemeinsames, nach"
dem alle streben. Allein wenn schon in andern geistigen
Beziehungen der Fortschritt nicht als ein stätiger und
ununterbrochener erscheint, indem von Zeit zu Zeit
geistige Momente sich geltend machen, Welche bisher
vernachlässigt waren, und gleichsam nachgeholt werden
müssen, so fällt dies bei der Kunst vorzugsweise ins
Auge. Denn der Eintritt eines neuen Prinzips führt die
Zerstörung der auf ein älteres gegründeten Civilisation,
und damit eine chaotische Verwirrung herbei, in welcher
die gröbern Bedürfnisse lange Zeit alle Kräfte in An-
spruch nehmen, und der Kunstsinn schlummert.
Dennoch ist aber auch die Kunst solcher ungünstigen
Zeiten der Beachtung wohl werth, sowohl in Beziehung
auf das Wesen der Kunst an sich, als für die Geschichte
überhaupt. Denn in der Zerstörung und im Wiederaufbau
der Kunst lernen wir ihr Wesen von einer Seite kennen,
Welche in den Zeiten ihrer Blüthe nicht ans Licht kam.
WVie man in krankhaften Zuständen des menschlichen
Ürganismns die Wirksamkeit und Bedeutung einzelner
Theile genauer erfährt, als bei voller Gesundheit des
ganzen Körpers, oder wie man, wenn die Mauern ab-
gebrochen, die Construction der Fundamente, auf denen
das Gebäude bisher so fest ruhete, untersuchen kann,
so zeigt sich auch in solchen Perioden geringerer Kunst-
pflege deutlicher der Zusammenhang des -Kunsttriebes
mit den übrigen Anlagen des Geistes, die unzerstörbare
Wurzel, aus welcher die frühere Blüthe hervorwilchs
und eine künftige wieder aufschiessen wird. Ebenso
wichtig ist aber die Betrachtung solcher minder günsti-
gen Zeiten für die allgemeine Geschichte. Denn auch in
Solchen Zeiten ist die Kunst. so unvollkommen und ver-