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Malerei des XVI. Jahrhunderts.
Rafael.
Die Action, welchediese Bilder beseelt, ist allerdings nur die
Sache des grössten Künstlers. Allein man muthete ihm innerhalb sei-
nes Themas auch nicht das Unmögliche zu, wie z. B. die geistige
Gemeinschaft eines Gelehrteneongresses, einer Maleraeademie oder
überhaupt solcher Personen, deren charakteristische Thätigkeit gar nie
gemeinsam vor sich geht, und die, wenn man sie beisammen malt,
immer auf das Diner zu Warten scheinen. In der Disputa gab R.
nicht etwa ein Concilium, sondern eingeistiger Drang hat die gröss-
ten Lehrer göttlicher Dinge rasch zusammengeführt, so dass sie um
den Altar herum nur eben Platz genommen haben; mit ihnen namen-
lose Laien, die der Geist auf dem Wege ergriffen und mit hergezogen
hat; diese bilden den so nothivendigen passiven Theil, in welchem das
von den Kirchenlehrern erkan nte Mysterium sich bloss als Ahnung
und Aufregung reflectirt. Dass der obere Halbkreis der Seligen (eine
vcrherrlichte Umbildung desjenigen von S. Sevdro) dem untern so
völlig als Contrast entspricht, ist der einfach erhabene Ausdruck des
Verhältnisses, {in Welchem die himmlische WVclt die irdische über-
schattet. Endlich imponirt hier im höchsten Grade die kirchliche Idee,
es ist kein Bild von neutraler Schönheit, sondern ein gewaltiger In-
begriff des mittelalterlichen Glaubens.
Den Gegensatz dazu bildet die S chule von Athen, ohne himm-
lische Gruppe, ohne Mysterium. Oder ist die wunderschöne Halle,
welche den Hintergrund ausmacht, nicht bloss ein malerischer Ge-
danke, sondern ein bewusstes Symbol gesunder Harmonie der Geistes-
und Seelenkriifte? Man würde sich in einem solchen Gebäude so Wohl
fühlen! Wie dem nun sei, Rafael hat das ganze Denken und YVis-
sen des Alterthums in lauter lebendige Demonstration und in eifriges
Zuhören übersetzt; die wenigen isolirten Figuren, wie der Skeptiker
und Diogenes der Cynikcr, sollen eben als Ausnahmen contrastiren.
Dass die rechnendcn Wissenschaften den Vordergrund unterhalb der
Stufen einnehmen, ist wieder einer jener ganz einfachen genialen Ge-
danken, die sich von selbst zu verstehen scheinen. Trefflichste Ver-
theilung der Lehrenden und der Zuhörenden und Zuschauenden, leichte
Bewegung im Raum, Reichthum ohne Gedränge, völliges Zusammen-
fallen der malerischen und dramatischen Motive. (Wichtiger Carton
aill der Ambrosiana zu Mailand.)