Michelangelo Buonan-oti.
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WVie er die Formen bildete und was er damit im Ganzen wollte,
ist oben bei Anlass der Sculptur angedeutet werden. Für die Ma-
lerei kommen noch besondere Gesichtspunkte in Betracht. Michel-
angelo lernte zwar in der Schule Ghirlandajds die Handgriffe, ist aber
in seiner Auflassung ohne alle Präcedentien I). Es lag ihm ganz ferne,
auf irgend eine bisherige Andacht, einen bisherigen kirchlichen Typus,
auf die Empiindungsweise irgend eines andern Menschen einzugehen
oder sich dadurch für gebunden zu erachten. Das grosse Capital der
kirchlichen Kunstbräuche des Mittelalters existirt für ihn nicht. Er
bildet den Menschen neu, mit hoher physischer Gewaltigkeit, die an
sich schon dämonisch wirkt, und schafft aus diesen Gestalten eine
neue irdische und olympische Welt. Sie äussern und bewegen sich
als eine von allem Frühern verschiedene Generation. Was bei den
Malern des XV. Jahrh. Charakteristik heisst, ündet bei ihnen schon
desshalb keine Stelle, weil sie als ganzes Geschlecht, als Volk auf-
treten; wo aber das Persönliche verlangt wird, ist es ein ideal ge-
schaffenes, eine übermenschliche Macht. Auch die Schönheit des
menschlichen Leibes und Angesichtes kommt nur im Gewande jener
Gewaltigkeit zum Vorschein; es liegt dem Meister mehr daran, dass
seine Gestalten der höchsten Lebensiiusserungen fähig, als dass sie
reizend seien.
Wenn man weit aus dem Bereiche dieser Werke entfernt ist und
Athem geschöpft hat, so kann man sich auch gestehen, was ihnen
fehlt, und wesshalb man nicht mit und unter denselben leben könnte.
Ganze grosse Sphären des Daseins, welche der höchsten künstlerischen
Verklärung fähig sind, blieben dem Michelangelo verschlossen. Alle
die schönsten Regungen der Seele (statt sie anfzuzählen genügt eine
Einweisung auf Rafael) hat er bei Seite gelassen; von all dem was
uns das Leben thcuer macht, kommt in seinen Werken wenig vor.
Zugleich giebt diejenige Formenbildung, welche für ihn die ideale
ist, nicht sowohl eine ins Erhabene und Schöne vereinfachte Natur,
als vielmehr eine nach gewissen Seiten hin materiell gesteigerte.
Keine noch so hohe Beziehung, kein Ausdruck der Macht kann es
1) Diess schliesst nicht aus, dass dem Luca Signorelli ein ähnliches Ziel, wenn
auch nur dämmernd von-schwebte. S. 808, f. 809, h.