Die Kirchenfassaden.
Ihre Schwingung.
373
form 1) geschwungen wird. Das Auge hält, zumal beim Anblick von
der Seite, die Biegung für stärker als sie ist und setzt die ihm durch
Verschiebung unsichtbaren Theile reicher voraus als sie sind. Sodann ist
auch hier ein malerisches Princip thätig: dasjenige, die homogenen
Banglieder, z. B. alle Fenstergiebel, alle Capitiile desselben Ranges
dem Beschauer auf den ersten Blick unter ganz verschiedenen Ge-
sichtspunkten vorzuführen, während die strengere Architektur ihre
Wirkung im geraden Gegentheil sucht. Ich weiss nicht, war es noth-
wendige Consequenz oder nicht, dass die Giebel ausser der Schwin-
gung nach aussen auch wieder eine nach oben annehmen, sodass ihr
Rand eine doppelt bedingte, meist ganz irrationelle Curve bildet; so
viel ist sicher, dass diese Form zu den abschreckendsten der ganzen
Baukunst gehört, zumal wenn die Giebel gebrochen sind. Es wird
damals theoretisch zugegeben, dass die runde Form unter allen Um-
ständen die schönste seiz); ohne darauf zu achten, welche Vorbedin-
gungen die wahre Baukunst macht und machen muss.
Francesco Borromini ist für diese geschwungenen Fassaden
der berüchtigte Name geworden, obschon die übelsten Oonsequenzen
erst von der missverstehenden WViIlkür der Nachahmer gezogen wur-
den. Sein Kirchlein S. Carlo alle quattro fontane (1667) enthält iua
der That weder innen noch aussen andere gerade Linien als diejeni-
gen an den Fensterpfosten etc. An S. lirlarcello am Corso ist dieb
Fronte von Carlo Fontana; S. Luca von Pietroo dafCortona;
S. Croce unweit vom Pantheon aus dem XVIII. Jahrhundert. Eine
Seite kann man diesen Fratzengebilden immerhin abgewinnen: sie sind
Wenigstens wirkliche Architektur, können schöne und grossartige
Hauptverhältnisse darstellen und stellen sie bisweilen Wirklich dar.
Dies wird man am Besten inne beim Anblick gleichzeitiger venezia-
nischcr Kirchenfassaden (S. Meise, Chiesa dcl Ricovero, S. Mariac
Zobenigo, Scalzi), Welche zwar geradlinig aber keine Architektur mehr,
1) Ein werther Freund, den ich aus der Ferne herzlich grüsse, pflegte zu Sagen,
Solche Fassaden seien auf dem Ofen getrocknet.
2) Es ist hier noch einmal hinzuweisen auf Berninfs Colonnaden von S. Peter
(S. 338), als deren Caricatur etwa die Halle von S. Micchele in Mailand a
(von Francesco Croce) zu nennen wäre, welche aus vier grössern und vier
dazwischen vercheilten kleinem Kreissegmenten besteht,