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Gothische Architektur.
räumigen dagegen, welches die Italiener bezweckten, ist die Horizon-
tale; während sie im Norden nur als überwunden angedeutet wird,
tritt sie hier als herrschend auf. Natürlich ergeben sich hiebei oft
schreiende Widersprüche mit dem auf das Steile und Hohe berechne-
ten Detail, und diejenige Kirche, die von dem letztern am wenigsten
an sich hat, wird auch am wenigsten Störendes haben. Genau be-
sehen möchte die grosse Neuerung, die aus dem Norden kam, wesent-
lich ganz anderswo liegen als in der Behandlung der Formen. Nach-
dem schon lange in der Lombardie der gegliederte Pfeilerbau in der
Art der romanischen Baukunst des Nordens ausgeübt worden war,
drang er jetzt (XIII. Jahrhundert) erst recht über den Apennin. Die
Säulenbasilica Wich endlich auch in Mittelitalien, nicht vor dem ästhe-
tischen, sondern vor dem mechanisch-constructiven Ruhm der nordi-
schen, jezt ins Gothische oder Germanische umgebildeten Bauweise.
Die Wölbung im Grossen, bisher den Kuppeln und Nischen vorbe-
halten, dehnt sich jetzt erst über das ganze Gebäude aus und zwar
sogleich in einem andern Sinn als im Norden, zu Gunsten der Weit-
räumigkeit, die dann bald zur Schönräumigkeit wird.
Ist es ohne Lästeruug erlaubt, etwas zu Ungunsten des herrlichen
germanischen Styles zu sagen und den Italienern in irgend einem Punkte
dieser Frage ein grösseres Recht zuzugestehen? so möchte ich zu
bedenken geben, ob an den nordischen Bauten nicht des organischen
Gerüstwesens zu viel sei, und ob nicht wegen der imgeheuern Kosten,
die dasselbe nach sich zieht, manche Oathedrale unvollendet geblieben.
Man wird z. B. an vielen italienischen Bauten dieses Styles vielleicht
mit Befremden die Strebepfeiler, die im Norden so weit vertreten,
kaum als Wandbänder angedeutet finden, die denn natürlich keines
Abschlusses durch Spitzthürmchen laedürfen; der Grund ist einleuch-
tend: ihre nordische Ausbildung hatte das constructive Bedürfniss eines
Widerlagers für die Gewölbe unendlich überschritten und wurde daher
im Süden als Luxus beseitigt. Die nordische Gothik hatte ferner den
Thurm zum Führer, zum Hauptausdruck des Baues gemacht und die
ganze Kirche mehr oder weniger nach seinem Vorbilde stylisirt;
die Italiener fanden dieses Verhältniss weder nothwendig noch natürlich
und stellten ihre Thürme fortwährend getrennt oder in anspruchloser
Verbindung mit der Kirche auf; den ursprünglichen Zweck der Thürmc,