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San Marco in Venedig.
ganz deutlich aus; die tiefsten nationalen Züge liegen klar zu Tage.
Mit schwerer Einschränkung, durch Pfahlbau im Wasser, erkauft der
Venezianer den Hort, wo seine Schätze tinangreifbar liegen können;
je enger desto prächtiger baut er. Sein Geschmack ist weniger ein
adlicher als ein kaufmännischer; das kostbarste Material holt er aus
dem ganzen verwahrlosten Orient zusammen und thürmt sich daraus
seine Kirchenhallen und Paläste. Das Vorbild Constantinopels und
der eigene patriotische Ehrgeiz drangen allerdings auf das Bedeutende
und Grosse hin, allein vorwiegend bleibt das Streben, möglichsten
Reichthum an den Tag zu legen.
a Die Marcuskirche, begonnen 976, ausgebaut während des XI. und
X11. Jahrhunderts, dem Schmuck nach fortwährend vervollständigt
bis ins XVII. Jahrhundert, ist nicht als Oathedrale von Venedig
(S. Pietro hatte diesen Rang) sondern als Prachtgehiiuse für die Ge-
beine des Schutzheiligen, das Palladium des Inselstaates, errichtet.
Auch für die Bauform möchte diese nicht unwesentlich sein.
Die monumentale Absicht war hier nicht minder gross als bei den
Erbauern des Domes von Pisa, die Mittel wohl ohne Zweifel grösser,
zumal in Betreff der Stoffe, welche seit den römischen Zeiten im gan-
zcn Abendland kaum wieder so massenhaft kostbar aufgewandt wor-
den sind wie an S. Marco.
Im Orient, wo man die prächtigen Steinarten zusammensuchte,
standen auch diejenigen Kirchen, welche auf die damaligen Venezianer
den grössten Eindruck machten: die Kuppelbauten des byzantinischen
Styles; diesen wünschte man etwas Ähnliches an die Seite zu stellen.
Nicht zunächst von der Sophienkirche, welche nur eine Hauptkuppel
mit zwei grossen angelehnten Halbkuppeln hat, sondern von den in
allen Formen vorkommenden mehrkuppeligen Kirchen der Griechen
entnahm man die Anordnung der fünf einzelnen Kuppeln über den
Kreuzarmen und der Mitte; byzantinisch sind auch die grossen Seiten-
bogen, Welche, durch Säulenreihen abgetrennt, die Nebenschiffe sämmt-
licher Ilaupträume bilden; ebenso die um den ganzen vordern Kreuz-
arm herumgeführte Aussenhalle; endlich die zahlreich angewandten
Nischen, in welche zumal an den hintern Theilen und an der Aussen-
halle die Wandfläche aufgeht, eines derjenigen Elemente des altrömi-
sehen (und jedes grossen) Gewölbebaues, an Welchem die Orientalen