Volltext: Architectur (Bd. 1)

Schietbau und Bauungleichheiten. 
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der Griechen, die Süulenhalle als belebten Ausdruck der Wand ringsum 
zu führen, ist hier mit der grössten Kühnheit auf ein mehrstöckiges 
Gebäude übertragen; es sind viel mehr als blosse Galerien, es ist eine 
ideale Hülle, die den Thurm umschviebt und die in ihrer Art densel- 
Den besten Schlüssel gewährt S. Marco in Venedig. Auf einer Lagu-m 
neninsel errichtet, zeigt dieses Gebäude vor Allem in seinen verticalen Thei- 
len und Flächen viele unwillkürliche Schiefheiten, doch keine eigentlich auf- 
fallende, indem ohne Zweifel das Mögliche geschah, um sie zu vermeiden. 
(Der Fussboden der Kirche mit seinen wellenförmigen Unebenheiten beweist 
am besten, welche Opfer man bringen musste, um wenigstens Pfeilern und 
Mauern eine leidlich lothrechte Stellung zu sichern.) Sehr auffallend dage- 
gen ist die Ungleichheit und Unregelmässigkeit sämmtlicher Bogen und Wöl- 
bungen, selbst der Kuppclründer. Anfangs ist man versucht, dieselbe von 
dem Ausweichen der Pfeiler und Mauern abzuleiten, welches auch in der 
That hie und da die Schuld tragen mag; bei längerer Betrachtung dagegen 
überzeugt man sich, dass die reine Gleichgültigkeit gegen das Regelmässige 
der wesentliche Grund ist. Ich glaube, dass schon die Lehrbogcn nicht ein- 
mal genau gemessen waren. Man betrachte z. B. die obcrn Wandbogen an 
der Südseite des Aeussern; sie sind krumm und unter sich ungleich, obschon 
es hier ganz leicht gewesen Ware sie im reinsten Halbkreis zu construiren 
und ihnen diese Form auf immer zu sichern; auch an eine ästhetische Ab- 
Sicht wird hier Niemand denken wollen, da die bunte Verschiedenheit des 
Details schon Abwechselung genug mit sich bringt. 
Auf diesen Vorgang gestützt dürfen wir auch in Pisa das (doch sehr 
unmerkliche) Überhängcn der Domkuppel nach hinten für eine blosse Unge- 
nauigkeit, die schiefe Stellung des Baptisteriulns (vrovon ich mich näher zu 
überzeugen versäumt habe) für die Folge einer Bodensenkung halten. u- Für 
die krummen Linien, ungenauen Parallelen, ungleichen Intervalle am Aussern 
des Domes würde ebenfalls S. Marco bündige Analogien bieten; eine nähere 
Vergleichung aber gewährt z. B. die Südseite des Domes von Ferrara, wel- H 
che von auffallenden Ungleichheiten der Intervalle, Krümmungen der Horizon- 
talen u. dgl. wimmelt, während die Anspruchlosigkeit des Baues jeden Ge- 
danken an ästhetische Intention ausschliesst. 
Die mathematische Regelmässigkeit, welche mit den bald zu nennenden 
llorentiniscben Bauten den Sieg davonträgt, musste eintreten schon in Folge 
der strengem Plastik des Details, welche von selbst auf genaue Vermessung 
hindrängt; sie war es, welche z. B. an S. Marco noch völlig fehlte.  
Allerdings giebt es noch weit spätere Räthsel, wie z. B. der Dom von 
Sienu, welche wir als lläthsel müssen auf sich beruhen lassen.
	        
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