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Romanische Architektur.
Thurm von Pisa.
Gliederung des Details wieder um einen Grad einfacher und das roma-
nische Capitäl mit seiner derben Blätterbiluhng hat entschieden das
Übergewicht vor dem römischen. Der Coxnposition nach ist dieses
einzige Gebäude eines der schönsten des Mittelalters. Das Princip
den sein. Dann ist gerade der Ausbau des Thurmes von Pisn ein immerhin
sehr autfallendes Werk dieser Art; die meisten Bauverwaltungen hätten den
Thurm, als er sich senkte, unvollendet gelassen oder auf bessern Fundamen-
ten neu angefangen; der pisanisehe Übermuth aber liess sich auf das Schwie-
rige und vielleicht damals noch Unerhörte ein.
Weit die meisten schiefen Gebäude aber sind es e hne Ab sicht des
Baumeisters geworden, durch ungenügende Fundamente. Das Pilotiren, als
einzige Sicherung bei morastiger oder sonst bodenloser Beschaffenheit der
Erde, scheint nur ungleich und allulälig aufgekommen zu sein; die Frühern
machten sich auf die Senkung des Baues unter solchen Umständen gefasst
und kamen dem Schaden durch Dicke der Mauern, Vcrklammenzngexi u. s. w.
zuvor. Einen sprechenden Beleg liefert noch Pisa selbst; der von N. Pisano
s. erbaute Thurm von S. Nicola steht sehr merklich schief, allein doch lange
nicht schief genug, um als Werk der Kühnheit mit dem berühmten Campa-
nile wetteifern zu können, welches schon als Gebäude so viel bedeutender
ist; an eine Absicht lässt sich hier nicht denken, wohl aber an eine Voraus-
sicht, wie aus der starken Bildung des Mauercylinders hervorgeht. Ebenso
M, ist am Dom von Modcna die wahrhaft bedrohlich aussehende Neigung des
ganzen llinterbaues gegen den ebenfalls geneigten Campanile offenbar eine
unabsichtliche, nur dass der letztere allerdings mit Rücksicht auf diesen Um-
1- stand ausgebaut sein mag. (Dagegen stehen Dom und Baptisterium in Par-
H" ma völlig lothreeht.) Am Dom von Ferrara neigt die Fassade nicht un-
bedeutend vor, gewiss gegen den Willen des Baumeisters.
Kunstgeschichtlich viel wichtiger wäre die Ansicht Försters über den
Zusammenhang des pisanischen Schiefbaues mit den Ungleichheiten der
Vermessung, schrägen und krummen Baulinien, unentsprechenden Inter-
vallen etc.; in all diesem spreche sich nämlich eine Scheu vor dem Mathe-
matischen, vor der völligen Gleichförixiigkeit aus; es seien diess: „die unbe-
holfcnsten Aeusserungen romantischer Bestrebungen." Da man an griechi-
schen Tempeln (vgl. S. 5) etwas Analoges unbedingt zugeben muss, so hat
diese Annahme etwas sehr Anziehendes. Ich glaube iudess die betreffenden
Phänomene anders erklären zu müssen, und zwar nicht durch Mangel an Ge-
schicklichkeit wovon an den edeln pisanisehcn Bauten keine Rede sein
kann sondern durch eine dem frübern Mittelalter eigene Gleichgültig-
keit gegen das mathematisch Genaue. LetZtePßS Verstand Sich dllfvhällS
nicht immer so von selbst wie es sich jetzt versteht.