Giotto.
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Darstellung, gedrängt in der Anordnung, ohne Ueberiluss an einzelnen Figuren und
Nebenüguren oder an Beiwerken , anziehend und verständlich durch Motive aus dem
täglichen Leben. Seine im Ganzen wohl proportionirten Gestalten sind zwar nichts
weniger als frei von Mängeln in der Zeichnung und Anatomie, allein sie drücken
durch die Bewegung des Körpers und seiner Glieder bis auf den kleinsten Finger,
sowie in den Gesichtszügen den beabsichtigten Seelenzustand oder die gewünschte
körperliche Handlung vollkommen- und mit grosser Feinheit des Gefühls aus. Ja,
er hat diese Charakteristik, die neben dem Verdienst: der Kunst eine Menge neuer
Gegenstände zugeführt zu haben, eines der Hauptmomente seiner künstlerischen
Bedeutung ist, mit so glücklichem Erfolg geübt, dass seine Zeitgenossen von der
bisher ungekannten Natürlichkeit und Lebendigkeit seiner Darstellungen ganz ausser-
ordentlich überrascht wurden; wie denn auch z. B. die wenigen Bildnisse, die wir
von ihm kennen, eine innere Gewähr lebensvoller Aehnlichkeit tragen. Die weichen
und langgezogenen Falten der Gewandung, bei der er die Pracht der Verzierung
seiner Vorgänger vermied oder mässigte, sind in strengem Styl behandelt, und dienen
meistens zur grösseren Verdeutlichung oder zur Erhöhung der Würde der Gestalten.
In den Köpfen seiner dargestellten Personen zeigt sich meistens eine typisch wieder-
kehrende Bildungsweise, die nicht sonderlich schön ist, die Augen sind insgemein
scharf geschlitzt und stehen nur in geringem Zwischenraume von einander. Auch
steht er an Huld, Anmut-h und Schönheit der Bildung weit unter Cimabue und dem
gleichzeitigen Sienesen Duccio. Es war ihm überhaupt weniger um Schönheit zu
thun, als um Verst-ändlichmachung seiner völlig neu erfundenen Darstellungen, deren
Bedeutung durch keine ältere Ueberlieferung gegeben war. Doch sieht man im
Einzelnen auf seinen Gemälden manche anmuthige Köpfe, und das Ganze ist stets
in schönen Verhältnissen und, wo es nöthig war, in einer eigenthümlich feier-
lichen, einfach melodiösen Weise geordnet. Auch wusste er die schöne Vertheilung
im Raum mit der Lebendigkeit des Ganzen in einen harmonischen Einklang zu bringen.
Die Ausführung im Detail ist dagegen durchweg meist ilüchtig und mehr nur an-
deutungsweise; dieselbe lag auch seinen besonderen künstlerischen Absichten weniger
nahe. Das Bindemittel, dessen er sich zum Farbenauftrag bediente, ist üüssiger
und minder zähe als das bisher gebrauchte und gestattete der Hand eine grössere
Leichtigkeit; auch dunkelte dasselbe weniger nach. Im Ganzen ist seine Färbung
eine lichte, wie sie das Fresco verlangt, mit noch helleren Tönen für die Licht-
parthieen.
Von Giotto's Thätigkeit als Baumeister ist uns ausser den genannten Werken,
des Glockenthurmes und der Fagade des Domes, wenig bekannt, allein dieses Wenige
genügt, um uns zu versichern, dass er auch ein ausgezeichneter und vielgeprüfter
Architekt war. Bei ersterem hatte er den stolzen Auftrag erhalten: „ein Gebäude
aufzuführen, das an Höhe wie an künstlerischer Ausführung Alles übertreife, W818
in solcher Art von den Griechen und Römern in den Zeiten ihrer bliihendsten Macht
sei geschaffen worden", und der reiche, schlanke und edle Bau, wie ihn Giotfß
entworfen und wie ihn nach dessen Tode Taddeo Gaddi, des Meisters Zeichnung
getreu, zu Ende gebracht, gibt Rechenschaft über die Art und Weise, wie Giotm
dem Auftrage entsprochen, und ist ein zweites Zeugniss seines umfassenden , denken-
den und dichterischen Geistes. Auch die 1332 nach einem herrlichen Entwürfe V01!
ihm begonnene Fagade-des Doms zu Florenz war ein Werk, das an Pracht und
sßhönheit Wenigstens in Italien nicht übertroffen worden ist, ein glänzendes Denk-
mal von des Meisters vielumfassender Künstlerschaft. Was davon vollendet war (und,
Wle bemerkt, 1588 wieder abgenommen wurde) sieht man dargestellt in einem der
FfeSßobilder Pocettis im ersten Klosterhof von S Marco. "
Als Bildhauer lernen wir Giotto in den Sculpturen an diesen beiden Bauten
Sßhätlen- Sämmtliche Reliefs an den beiden unteren Stockwerken des Glcckenthurms
' Ein schweizerischer Architekt, der viel zu früh der Kunst entrislene J. G. Müller aus Wyl, hat
nach diesen und anderen lndicien eine Fagade entworfen, wie sie für dieses Gebäude hier" von.
kommcnei- gedacht werden könnte, (In Stich mitgetheilt in der von Ernst Förster Yelfßßßßen
310819171112 des Verstorbenen.)