Volltext: A - E (Bd. 1)

Dürer , 
Albrecht. 
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ein Zeugniss von der eigenthümlichen Grösse seiner künstlerischen Anlagen abgibt. 
Er wusste die charaktervolle Nachbildung gemeiner Wirklichkeit durch hohen Adel 
der Gesinnung zu erheben und zu verklären, und diese sittliche Haltung bei oft un- 
schönen äusseren Formen trat bei ihm an die Stelle jener bewusstlos gläubigen 
Frömmigkeit, die unter den Kämpfen der Reformation nicht bestehen konnte. So 
behandelte er seine religiösen Darstellungen, entfernt von aller überlieferten idealen 
und kirchlichen Form, mehr aus dem menschlichen Standpunkte mit wunderbarer 
Klarheit der Einsicht und des Gefühls; er spielte Ereignisse und Personen in mög- 
lichst natürliche, ja lokale Verhältnisse, suchte aber zugleich dabei bekannten Gegen- 
ständen neue poetische oder gemüthliche Seiten abzugewinnen. Dabei darf aber nicht 
verkannt werden, dass wenn es auch die Kirche nicht mehr war, die seiner künst- 
lerischen Phantasie ihren Stoff und ihre Richtung gab, er dennoch nicht nur die 
Religion, die Grundlage von Kirche und kirchlicher Kunst nicht um eines Haares 
Breite verliess, sondern immcrdar das Christenthum in brünstiger Begeisterung und 
Glaubenskraft in sich wirken und gestalten liess. Seine Nachbildungen nach dem 
Leben, die verschiedenen Bildnisse, zeichnen sich durch die unbeugsame Treue und 
Wahrhaftigkeit, sowie den hellen Blick in den Charakter, in die Verhältnisse und 
Individualitäten aus. Mit besonderer Vorliebe und wiederum unübertreflich wahr 
schilderte er sodann mit dem Pinsel, Stift oder Stichel jene Erscheinungen des Lebens, 
die weder durch Bildung noch durch Reflexion aus ihrer Naturwüchsigkeit gebracht, 
und desshalh freilich auch bei aller Gemüthlichkeit häuiig roh und selbst gemein 
sind: Bauern, die Eier oder Geflügel verkaufen, oder ihre Tanzsprünge machen oder 
zärtlichen Empfindungen Raum geben, jubelnde oder st-reitende Landsknechte, Dudel- 
sackpfeifer u.  und da er für solche Darstellungen keinen anderen Vortrag und 
Styl hatte, als wie für seine religiösen, so war der Weg von den einen zu den anderen 
sehr kurz und manche liladonna mit dem Kinde wäre ohne die Zuthaten, wie das 
I-Ierkommen sie vorschreibt, oder die heil. Schrift sie erzählt, von einer gewöhnlichen 
Nürnberger Hausfrau nicht zu unterscheiden. Am Entschiedensten und Bestimmtesten 
geben sich die Eigenthümlichkeiten und Eigenheiten des Meisters jedoch in seinen 
freien Phantasien kund. Den Stoff dazu entlehnte er bald aus der Natur, deren Er- 
scheinungen er irgend einen mehr oder weniger klaren Sinn unterlegte, oder auch 
in ein interessantes Gedankendunkel hüllte; bald aus der Religion oder der Legende, 
von der er den Faden nahm, um ihn beliebig weiter zu spinnen; bald aus der Mytho- 
logie, deren Gestalten bei ihIIl freilich in der Regel das griechische Costume gegen 
die Tracht des Hans Sachs vertauschen mussten. So ist z. B. sein heil. Hubertus oder 
Eustachius eine glänzende, poetische Schilderung des Wald- und Jagdlebens, und 
in seinem heil. HieronynluS, den er wiederholt darstellte, weisg er bald die Waldein. 
samkeit und Stadt- und Menschenferne, oder das heimliche Stillleben der Studirstube 
bis zur Papierscheere und dem LichtstümPChen auf's Vollständigste und Reizendste 
auszumalen. Dagegen Sehen Wir ihn sich ganz in die Tiefen seines sinnenden, brü- 
tenden, philosophischen KunstgeiSte-S Vefsellkeil, Wenn er, wie in seiner "Melancholie" 
diese dunkle Stelle der Menschenseele selber schildern will, 
Bei einem so unermesslich grossen Wirkungskreis ist es nicht zu verwundern, 
wenn Dürer's gewaltiges Genie vom Stoff zuweilen übermannt wurde, so dass sich 
Seine Richtung und die Mittel zum Ziele oft änderten und Anschauung und Technik 
nicht immer bei ihm dieselben bleiben küllnhen. Im Allgemeinen erscheint uns jedoch 
der Meister zu verschiedenen Zeiten Seiner Thätigkeit wohl in verschiedener Rich- 
inng, immer aber dasselbe Ziel lebendiger Charakteristik verfolgend. So liess er in 
früheste? Zeit der Phantasie freien Lauf und strebte das Grossartige, Erhabene zu 
charakterisiren, während ibm um das erste Jahrzehend des 16. Jahrhunderts die 
Lebensbeschauung und Betrachtung, Mittel und Zweck zugleich waren, wobei sich 
die Vorwürfe, die er behandelte, durch äusserst klare Objektivität auszeichneten. 
Am Abend seines Lebens wandte sich letztere sodann mehr und mehr zum Materiellen 
hin und die Charakteristik reichte nicht selten in's Uebertriebene. Er wich dem 
drängenden Geist der Zeit, verfuhr jedoch im Einzelnen mit der alten Unbefangen-
	        
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