'l'extile Kunst.
Schlussbemerkungen.
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die streitige Frage auf zwanzig gedruckten Oktavseiten ausspricht und "in
"Wahrheit die ganze Streitfrage zum Abschluss bringt, über den
"Prozess Kugler contra Hittortf-Semper richtend, beiden Parteien Unrecht und
"Recht gebend?" was Kuglern sehr fatal ist, der, obschon selbst Partei,
zugleich auch alleiniger Richter des Prozesses bleiben will, über den er so
sehr naiv die Akten für geschlossen erklärt.
"Aus fertigen Bausteinen bauen sich manchmal recht hübsche Throne
auf" meint Kugler am Schlnsse seiner Notiz 2 über diese Schrift Hettner's.
Kugler freilich brauchte sich den Thron; auf dem er in dieser Sache richtet,
nicht erst zu bauen, denn er war schon vor ihm fertig; wenigstens sein
Vorbild, sein weissscheckiges ArchctyPi nämlich jener von Klenze restau-
rirte äginetische Tempel in der Glyptothek zu München, zu dem der Katalog
bemerkt: „Man sei in dieser bemalten Reliefdarstellung so gewissenhaft ge-
"wesen dass selbst dann nichts dem alis den Ruinen sicher zu Beweisenden
"hinzugefügt worden sei, wenn das unläugbare Erforderniss zur Harmonie
ndes Ganzen einen Zusatz erfordert hätte." Man gab nur Farben an, wo
sichere Spuren derselben sich fanden, das übrige liess man vwreiss; das
Weiss ist also an diesem Modelle des Tempels in der klar ausgesprochenen
Absicht des Architekten Klenze ein Gedankenstrich, eine unausgefiillte
Stelle! Und auf diesem unfertigen Münchner Tempel thront nun Kugler
seit länger als 20 Jahren und spricht Entscheid von ihm herab wie Salomo!
Aber was gab ihm mehr Recht dazu als Hettner es hat, und wodurch unter-
scheidet sich sein Urtheil von dem Hettnefs? Hatte Kugler, wie Hettner diess
von sich sagen darf, nur einen Fuss auf klassischen Boden gesetzt ehe er es
von sich gab? ist Kugler's System der Polychromie etwas anderes als "ein
Unrechtgeben und Rechtgeben nach beiden Seitenu, ein Compromiss zwischen
der farbescheuen Aesthetik der Vergangenheit und meiner auf lange Studien
an den Monurnentcn Attikas begründeten polychromcn Restauration der grie-
chischen Tempel aus perikleischer Zeit?
Ein Kuglefsches, oberhalb massenhaft dunkelfarbiges und buntes, unten
blendend weisses, Monument, sowie ganz weisse Marmorfiguren, die sich
auf blauem oder rothem Grunde abheben, mit gemalten Haaren, Lippen.
Augäpfeln, Augwimpern, Augenbrauen, Brustwarzen, und mit einer Fülle
farbigen und goldenen Kleiderschmnclres, können Künstler nicht wohl be-
greifen, sie behaupten, man habe zu vieles oder noch nicht genug zugestan-
den; ein weisser Tempel mit bereits eingeräumten kräftigen und massen-
haften Färbungen oben, und nur oben, sei undenkbar, wogegen ein nach
alter akademischer Vorstellung ganz weisser Säulenbau, etwa mit leichten
goldenen Riemen und Bändchen umräxidert und umsäumt. die Bedingungen
einer Art von Lebensfähigkeit als Kunstschüpfung in sich trage. Mit Marmor-
statuen verhalte es sich ganz ähnlich. So sprechen die Künstler, doch
weiss ich wie geringe Berücksichtigung in unserer Zeit, die matters of fact
haben v ill, die ästhetischen Nothwendigkeiten beanspruchen könnenga ich
1 Griech. Reiseskizzen von Hermann Ilettner. Braunschweig 1853. S. 187.
2 In Kuglefs kleinen Schriften, 1. B, Seite 361.
3 Der franzäsische Aesthetiker Beulä spricht gradezu ausy Geschmaks-
gründe seien bei der Beantwortung dieser Frage unzulässig.