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Viertes
Hauptstü c k.
kirchlichen; daher schliesst sich die Draperie an die dem Prinzipe
nach noch vollständig romanischen Wände und Glieder des gothi-
schen Wohnhauses bei weitem besser und leichter an als diess bei
hohen gewölbten Pfeilerhallen und Kirchen dieses Stiles der Fall
ist. Die Bekleidung der nackten an sich schmucklosen Wände
durch Teppiche, die ihr eigenes Gerüst haben und von der Wand
abstehen, ist vom frühesten Mittelalter bis ins 17. und 18. Jahr-
hundert hinein allgemein gebräuchlich geblieben. Sie bilden einen
sehr Wichtigen Apparatus für die dramatische Kunst und die No-
vellistik jener Zeiten. Hinter ihnen belauscht man Geheimnisse,
mancher Verrath lauert mit blutgierigem Stahle hinter der bunten
Decke, mancher verstohlene Besuch findet zwischen ihr und der
Mauer seinen Schlupfwinkel und seinen Ausweg. Die Stoffe zu die-
sen Wandumstellungen waren von ältester Zeit ein wichtiger Han-
delsartikel des Orients, ihre Muster und ihre Farbenpracht wirkten
auf höchst bedeutsame Weise auf den Stil der Kunst des frühen
Mittelalters ein, so dass durch sie die Architektur ganz auf den-
selben Ausgangspunkt neuer Entwicklung zurückgeführt wurde,
von dem sie schon einmal im Alterthume ihre Laufbahn begann,
Mit dem gothischen Stile und der Reformation der Kloster-
regeln wurde die Wandbekleidung gemach metamorphosirt; die
Holztäfelung, das durchbrochene Stabwerk (die Schreine) treten
an die Stelle der Teppichwande und Draperien, ohne diese jedoch
in dem Civilbaue jemals ganz zu verdrängen. Das Weitere darüber
unter "Zimmerei" und im zweiten Theile unter "gothischer Stil."
Durch diesen Exkurs über das Draperiewesen und die Künste
des Dekorateurs bei den Alten gedachte ich den Leser gleichsam
unvermerkt dahinzuführen, dass ihm der antike Baustil gar nicht
mehr anders verständlich sei und existenzfähig erscheine als in
Verbindung mit diesem Beivverke und durch dasselbe, dass ihm
schon jetzt von der antiken Baukunst ein farbig belebtes Bild
vorschwebfe, das vielleicht mit einigen alten Vorstellungen die
er in sich aufgenommen hatte streitet, und er den Zusammen-
hang der antiken polychromen Ornamentik mit dem besprochenen
Prinzipe des Bekleidens bereits errathe. Jedoch war dabei mein
nächster Zweck nur dem Leser durch das Vorausgeschickte gewisse
Erscheinungen der Frühgeschichte monumentaler Kunst leichter
erklärlich zu machen.