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Viertes
Hauptstück.
treten. Wie die Wände des delphischen Tempelvorhauses ist
dann in dem Schiffe der Basilika des Apostelfürsten und ausser-
halb des Heiligthums mit jenen Tapeten der Weg den die Krö-
nungsprozession nehmen wird umstellt. Durch sie erst erhält die
grossartige Ordnung der Säulen und Pfeiler des Tempels ihren
richtigen Massstab, die gewundene Kolonnade des Vorhofes ihre
wahre Bedeutung, wenn die Verhältnisse der stehenden Archi-
tektur über der düstergesättigten Farbenpracht der Teppichwand
'majestätisch hinausragen und sich in dem Nebel des Weihrauchs
verlieren. Von allen Palastfagaden, von allen Balkons senken
sich dann die Prachtdecken herab, mit denen jedes Patrizierhaus
als Familienerbe für-diese" Bestimmung ausgestattet ist und deren
eingewirkte Bilder nicht selten zu der Geschichte des Hauses in
Bezug stehen. Auch Gemälde, ganz nach antiker Weise, werden
herumgetragen, lund es ist bekannt wie die grössten Meister es
nicht verschmähten zur Verherrlichung dieser kirchlichen Feste
durch ihre Kunst dadurch mitzuwirken dass sie derartige Pm-
zessionsbilder malten. 1
Es ist für den gothisehen Baustil bezeichnend dass er weit
weniger als jene antike Architektur der alten Basiliken oder auch
die erneuerte klassische Baukunst der Renaissance die Aus-
schmückungen der heiligen Räume durch Einbaus begünstigt und
seinerseits auch keineswegs durch diese in seiner Wirkung ge-
hoben wird. Der Grund liegt zum Theil darin dass die hori-
zontalbegrenzten Wände der Tapete dem emporstrebenden und
spitzen Prinzipe dieses Stils nicht homogen sind; zudem will der-
selbe nichts von Bekleidung wissen, da sein Element eben das
nackte Erscheinen der funktionirenden Theile ist, da er wie der
geharnischte Seekrebs sein Knochengerüst zur Schau tragen und
es zugleich in seiner Thätigkeit hervortreten lassen soll. Auch
bedarf dieser Stil zwischen sich und dem Menschen keines dritten
Massstabes, da dieser für alle Theile und für das Ganze des
gothischen Baues vom Menschen und seinen Verhältnissen ent-
nommen ist, da er schon ein ausser dem Werke liegender ist,
wo hingegen der antike Baustil seinen Massstab in sich hat, und
nicht in Beziehung zu dem Menschen, sondern in Beziehung zu
sich selbst und dem in ihm enthaltenen, durch ihn formell indi-
l Nach einer Künstlerlegende soll Raphael viie sixtinische Madonna,
schönste Schöpfung, für diesen Zweck in kürzester Frist gemalt haben.
seine