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Hauptstück.
Viertes
Beziehungen ist das Mittelalter zu der richtigen Auffassung und
Schätzung der Antike nothwendig, während es sich gleichzeitig
aus sich selbst nur ungenügend, vollständig erst durch diese
Vergleichung mit der Antike erklärt.
Der schaffende Genius der Griechen hatte eine edlere Auf-
gabe, ein höheres Ziel, als die Erfindung neuer Typen und Mo-
tive der Kunst, die sie von Alters her überkamen und ihnen
heilig blieben; ihre Mission bestand in anderem, darin nämlich,
diese, fertig wie sie dem Stofflichen nach bereits tixirt waren,
ihren nächsten gleichsam tellurischen Ausdruck und Gedanken
in höherem Sinne aufzufassen, in einer Symbolik der Form,
in welcher Gegensätze und Prinzipe, die im Barbarenthum ein-
ander ausschliessen und bekämpfen, in freiestem Zusammenwirken
und zu schönster reichster Harmonie sich verbinden. Wie will
man diesen höheren Sinn erfassen , wie lässt sich die hellenisehe
Form, die sekundäre, zusammengesetzte, verstehen, ohne vor-
herige Kenntniss jener traditionellen und in gewissem Sinng
naturgesetzlichen Bestandtheile derselben in ihrer ursprünglich
tellurischen Bedeutung "P Diese muss verangesehiekt werden ehe
wir uns dem höheren aber abgeleiteten Sinne welchen ihr die
Hellenen beilegten zuwenden.
Unter diesen alt-überlieferten formalen Elementen der helle-
nischen Kunst ist keines von so tief greifender Wichtigkeit wie
das Prinzip der Bekleidung und Inkrustirung, welches
die gesammte vorhellenische Kunst beherrscht und in dem grie-
chischen Stile keineswegs abgeschwächt oder verkümmert son-
dern nur in hohem Grade vergeistigt und mehr im struktiv-
symbolischen denn im struktiv-teehnischen Sinne, der
Schönheit und der Form allein dienend, fortlebt.
Der nähere Aufschluss dieses Gegensatzes wird erst im Ver-
laufe dieses Artikels erfolgen können, der eben das wichtige
Prinzip der Bekleidung und der Inkrustirung als Element der
bildenden Künste zu besprechen hat.
Das Werk des grössten französischen Kunstforschers und Ken-
ners der Antike, Quatremere de Quincy's Jupiter Olympien, war
nahe daran eine für das Verstehen der antiken Kunst in ihrer
Gesammtheit im hohen Grade wichtige Frage zu lösen, ja es löst
sie zum Theil, obschon nicht allgemein und prinzipiell genug, für