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Viertes Hauptstück.
vor. Man könnte sich wundern, dass in der ganzen Kunstlitteraitur
kein ernstlicher Versuch hervortritt, diese Frage in allen ihren
so überaus wichtigen Folgerungen zu behandeln, da doch in ihr
der Schlüssel für manches Räthsel in der Kunstlehre und die
Essenz der meisten Gegensätze und Kontraste, Welchen wir in
formal-stilistischer Beziehung auf dem Gebiete der Kunstgeschichte
begegnen, enthalten ist. Doch konnte diess nicht wohl geschehen,
vor den neuesten Entdeckungen und Forschungen die der allge-
meinen Lösung dieser ltlragc vorangehen mussten. Diess ist die
durch Quatremere de Quinc_y' zuerst angeregte und seitdem durch
eine langjährige fast ununterbrochene Kontroverse zwischen Ge-
lehrten und Künstlern hindurchgeführte neueste polychrome An-
schauung der antiken Architektur und Plastik, wonach sie nicht
mehr nakt, in der Farbe des Stoffs der in Anwendung kam,
sondern mit einem farbigen Ueberzuge bekleidet erscheint. Diess
sind die wichtigen Ausgrabungen und Funde auf den verödeten
Feldern, wo einst die uralten Reiche der Assyrier, Meder und
Babylonier blühten, diess sind die genaueren Darstellungen und
Beschreibungen früher bekannter und die wichtigen Entdeckun-
gen neuer Kunstmomente auf den Gebieten Persiens, Kleinasiens,
Aegyptens, Cyrenaikas und Afrikas. Diess sind endlich die nicht
minder wichtigen Forschungen die in den letzten zwanziger
Jahren sich der mittelalterlichen Kunst, sowohl christlicher wie
inuselmannischer, zuwendeten.
Das bedeutendste Resultat dieser neuesten Eroberungen auf
dem Gebiete der Kunstgeschichte ist der Zusammensturz einer
verjährten Gelehrtentheorie welche dem Verstehen der antiken
Fornienwelt unendlich hinderlich war, wonach hellenische Kunst
als ein dem Boden Griechenlands urheimisches Gewächs betrachtet
wird, da sie doch nur die herrliche Blüthe, das letzte Bestim-
mungsziel, der Endbezug eines uralten Bildungsprinzipes ist,
dessen Wurzeln gleichsam in dem Boden aller Länder, die vor
Alters -die Sitze gesellschaftlicher Organismen waren, weitver-
breitet sind und tief haften.
War diese Ablösung und Lostrennung der klassischen Antike
von dem grossartigen allgemeinen Bilde, welches die gesammte
antike Welt gewährt und innerhalb dessen sich die erstere doch
nur gleichsam als Hauptgruppe hervorhebt, die ihrer Umgebung
nicht entbehren kann, durch sie erst getragen und in ihrem wahren