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Viertes
Ilauptstück.
dieses von den vielfarbigen fast geometrischen Motiven der schma-
leren Streifen, die so ganz im Stickereistile gehalten sind, und
deren ganz ähnliche sich auf den Einfassungen der Wandfelder
zu Pompeji finden. Ich beanstande nicht diesen Stoff, in welchem
die Seide nurvzu der dekorativen Bereicherung benützt ward, für
antik zu halten, etwa für einen Nachklang der berühmten koischen
Industrie.
Unter den Uebcrresten wirklicher Seidenzeuge scheint mir das
merkwürdige Stück, welches in Chur in der Schweiz aufbewahrt
wird und wovon ein Theil, glaube ich, an den Erzbischof von Köln
verschenkt worden, wegen seines Alterthums und in stilhistori-
scher Beziehung in hohem Grade interessant zu sein. Dasselbe
ist von Fr. Bock in seiner Geschichte der liturgischen Gewänder
des Mittelalters (Tafel II.) in Farbendruck, jedoch nicht genau
im richtigen Colorite, veröffentlicht worden. Wir erkennen in
diesem Ueberreste ein unzweifelhaftes Werk antiker Kunstweberei
und zwar keineswegs eines aus tiefster Verfallszeit, sondern in dem
so charakteristisch ausgeprägten Dekorationsstile der mittleren
Kaiserzeit. Die Fcldervertheilung und das Prinzip der Polychromie,
das auf diesem Zeuge hervortritt, so wie die eigenthümliche will-
kürliche aber geschmackvolle Art, wie die vegetabilischen orna-
mentalen Motive zu der Ausfüllung der Felder benützt wurden,
die öftere Wiederholung des Kreissegmentes als Feldbegrenzung,
der Geist der Composition im Allgemeinen, alles dieses sind aus
den Wand- und Deckcnmalereien der Kaiserbäder und Pompejfs
wohlbekannte Erscheinungen, die sich in Bandstreifen wiederho-
lenden Thierkämpfe, verglichen mit den Miniaturen der ältesten
Manuscripte und anderer dem 6., 7. und 8. Jahrhunderte ange-
höriger Spätlinge antiker Kunst, wahre Meisterstücke richtiger
Zeichnung und lebendiger Gruppirung, vorzüglich wenn man die
schwierigere Darstellung durch den Webstuhl in Betracht zieht,
aus dem sie her-vergingen. Aus den angedeuteten stilistischen
Gründen stimme ich denjenigen bei, die dieser Reliquie der an-
tiken textilen Kunst ein sehr hohes Alterthum beimessen und
linde ich durch sie meine Behauptung bestätigt, dass das eigentlich
Charakteristische der Seide (der Atlasglanz, der Sammtflaum u. dgl.)
dem antiken Geschmacke nicht zusagte, und erst mit dem Aut-
hören des letzten Regens antiker Anschauung zu voller stilistischer
Anerkennung gelangen konnte.