Textile Kunst.
Stoffe.
Seidef
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thend, aber darin ganz von jenen atlasglänzenden Seidenproduk-
ten verschieden, dass der eigentliche Seidenstil noch gar nicht
deutlich an ihnen hervortritt, sind einige wenige sehr merkwür-
dige Ueberreste von Zeugen, bei denen Seide verwandt wurde,
die ihrem Charakter und dem Habitus der darauf dargestellten
ornamentalen und historischen Gegenstände nach zu schliessen,
griechische oder römische Arbeit sind und aus den früheren
Jahrhunderten des Christenthums stammen. Weniges davon ist
veröffentlicht worden, weil sich die christliche Archäologie mit
besonderer Vorliebe auf das Studium einer anderen Kunstrich-
tung wirft, als diejenige ist, deren letzte Reminiseenz sich
hier ausspricht, obschon sich gewiss noch manches kostbare Stück
der genannten Art in den Reliquiarien der Kirchen erhalten hat.
Ein interessantes sehr altes Gewebe, den sogenannten Schleier
der heiligen Jungfrau zu Chartres, hat Villemin in seinem be-
kannten Werke veröffentlicht, andere ähnliche erinnere ich mich
hie und da auf meinen Reisen gesehen zu haben.
Die erwähnte Reliquie ward urkundlich von Karl dem Grossen
der Kathedrale von Chartres verehrt, muss also schon damals
wenigstens das Ansehen eines sehr ehrwürdigen Alters gehabt
haben. Sie besteht aus feinem Stoff aus Linnen oder Baumwolle
von gelblieher Farbe (wahrscheinlich der Farbe des Rohstoffs),
und bildet eine Schärpe von 6 Fuss Länge und ungefähr 18 Zoll
Breite. An beiden Enden befindet sich ein breiter Bert, der aus
vielen der Quere nach eingewebten schmaleren und breiteren
Streifen besteht, deren Farben violett, schwarzblau und grün
sind. 4 Am äussersten Ende ist der Stoff violett befranst. Der
helle Grund ist regehnässig gemuscht, durch eingewebte Musehen
derselben Farbe, Vögel und Rosetten darstellend, desgleichen in
den Zwischenräumen der Streifen. Auf diesen aber sind bunt-
farbige Stickereien aus Seide angebracht; der breiteste Streifen
bildet einen Fries von Löwen und palmettenartigen Pilanzenver-
zierungen, die miteinander abwechseln. Der Stil -dieser gesticktem
Verzierungen nebst jener, die eingewebt sind, orientalisirt, aber
erinnert zugleich lebhaft an die antike Kunst, namentlich gilt
' Diese Streifen hiessen bei den Griechen ürfparoz, bei den Römern viae oder
trabes; und bildeten neben den Musehen oder Flittern (uäylgoz clavi), die
Zierde der koischen Gewänder: llla gerat vestes tenues quas fnmina Coa
Texuit auratas disposuitque vias. (Tibull II. 3. 54.) Siehe auchDemocritus apud
Athenaeum. 1. e.