Textile Kunst.
Die
Naht.
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waaren, besonders die Rennthierkollcr, renones, schon im 3ten
und 4tcn Jahrhundert die fashionable Wintertracht der vornehmen
Römer wurden, so dass gegen Ende des 4ten Jahrhunderts unter
Kaiser Honorius ein Luxusgesetz erlassen werden musste, welches
das Tragen der reichgestickten fremden Pelztrachten bei schweren
Strafen verbot, damit nicht die gothische Mode die Vorlauferin
der gothischen Herrschaft werde. Die Verzierungen an diesen
Pelzen, deren haarichte Seite xiach innen gekehrt war und nur an
den Säumen und Verbrämungen sichtbar wurde, waren aus der
kunstfertigen Ausbildung der Nahtstickerei hervorgegangen. Man
setzte zwischen die Haupttheilc des Pclzes zur besseren Hervor-
hebung der Naht lebhafter gefärbtes, rothes oder blaues und
grünes Leder, auch wohl buntschillernde lilischhätute, wenn anders
Tacitus richtig verstanden wird, und diese Streifen wurden mit
zierlicher Schnörkclstickerei eingesetzt, ganz nach kanadischer
WVeise und so, wie sie sich an den uns bekannteren russischen
Pelzstiefeln zeigt, die in der That sehr lehrreiche und schöne
Spccimina der in Rede stehenden, für die Theorie des Stiles so
interessanten Kilnsttcchnik sind. Es bedarf, hier wenigstens an
dieser Stelle, keiner weiteren Durchführung, wie die Nahtstickerei
bei allen Völkern des Ostens und überall, wo sich noch eine
wisse Ursprünglichkeit und Naivität der Volksindustrie kund gibt,
zwar auf die verschiedenste Weise, jedoch dem Prinzipe nach
gleichmässig geübt wird und die eigentliche materielle Basis der
gesammten Flächenornamentik bildet.
Wie sehr das Prinzip des offenkundigen Bekenncns der stoff-
lichen Zusammensetzung im B ekleidungsivesenl auch im Alter-
thume Geltung hatte, darüber geben uns die assyrischen Basreliefs,
die Malereien der ägyptischen Monumente, und vor allen die hel-
lenischen und etruskisch-italischen Vasenbilder, zunächst in Be-
ziehung auf Bekleidung im engeren Sinne des Wortes, d. h. auf
Kostüm, Kleidertracht und Draperie, unzählige und höchst inter-
essante Nachweise. Dass dasselbe wiederum keine Anwendung
fand und absichtlich verleugnet wurde, sobald die Unzulänglichkeit
des Materiales oder der Mittel es nöthig machte, etwas aus Stücken
4 Dem Ausdrucke Bekleidungswesen lege ich, wie sich aus dem BYAg-enden
ergeben wird, einen sehr ausgedehnten, mit meinen Ideen über antike Kunst
im Allgemeinen auf das Engste zusammenhängenden Sinn bei.
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