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Kunst.
Die
Naht.
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Praxis in ihrem einfachsten, ursprünglichsten und zugleich ver-
ständlichsten Ausdrucke auf, das Gesetz nämlich, aus de1'
Noth eine Tugend zu machen, l welches uns lehrt, dasjenige,
was Wegen der Unzulänglichkeit des Stoffes und der Mittel, die
uns zu dessen Bewältigung zu Gebote stehen, naturgemäss Stück-
werk ist und sein muss, auch nicht anders erscheinen lassen zu
wollen, sondern vielmehr das ursprünglich Getheilte durch das
ausdrückliche und absiehtsvolle Hervorheben seiner Verknüpfung
und Versehlingung zu einem gemeinsamen Zwecke nicht als
Eines und Ungetheiltes, Wohl aber um so sprechender als
Einheitliches und zu Einem Verbundenes zu eharakterisiren.
Es ist staunenswürdig, mit Wie richtigem Takte der durch tel-
lurische Fesseln an das Gesetz der Nothwendigkeit gebundene
und mehr willkürlos schaffende Halbwilde (sei dieser Zustand
nun ursprünglich oder Folge der Verwilderung, gleichviel, denn
die Kunstgeschichte zeigt, dass in dieser Beziehung der Anfang
und das Ende der Civilisation einander berühren) auch hierin das
Stilgesetz erkennt und wie seine ganze Kunsttheorie und Praxis
so zu sagen auf diesem Motive, verbunden mit wenigen anderen
damit verwandten Motiven, beruht. Wir bewundern die Kunst
1 Es dürfte der Worttauseh, den ich mir hier erlaubt habe, leicht spielend
und bedeutungslos erscheinen, und in der That wage ich nicht, die Worte
Naht und Noth als etymologisch und grundbegritflich verwandt zu bezeichnen,
obschon eine Ideenverknüpfilng ganz ähnlicher Art, nämlich zwischen Naht
und Knoten (lat. nodus, nexus, franz. noeud, engl. knot) zwischen der fesseln-
den oivaynz) und der unentwirrbaren Verschlingung, die wiederum nur die Noth
zerhaut, die sich nach verschiedenen Richtungen hin verfolgen lässt, wohl
schwerlich bloss aus zufälliger Aehnlichkcit der beiden Wörter, woran sie
haftet, hervorgeht. Erst nachdem ich dieses geschrieben, fand ich in Dr.
Albert Höfers sprachwissenschaftlichen Untersuchungen S. 223 folgende Stelle,
die meine Vermuthungen über den Zusammenhang der in dem Text berührten
Begriffe und WVorte bestätigt: "Es schliessen sich hier auf den ersten Blick
und unabweisbar eine Anzahl Worte an, die sich am fügsamsten um die
Wurzelform noc vereinigen, lat. neo: noc-o? nexus, necessitas (conf. lozyzos,
capesso, cap), die Verbundenheit, Folge, Zwang; nectere, 115m, vojöw, deutsch
nähen, althochdeutsch nahen (suere), neudeutsch neigen, skrit nah, womit natha
zu vereinigen ist. Die Begriffe Vereinigung, Fügung, Nähe liegen in diesen
und den obgenannten Wörtern sehr deutlich vor. Nanc isci und nahe,
nach stehen ihnen auch formell zu nahe, als dass man nicht eine grosse,
tiefwurzelnde Verzweigung anzunehmen-berechtigt sein sollte." Nach Grimm
sind we're und ävuynz) verwandt. Vergl. Grimm's deutsche Grammatik und
DiefenbaeHs Wörterbuch der gothischen Sprache.