'l'extilc
Kunst.
Die Decke
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Nichts ist vorthcilhafter für das Kunstwerk, als das Entrückt-
sein aus der vulgären unmittelbaren Berührung mit dem Nächsten
und aus der gewohnten Schlinic der Menschen. Durch die
Gewohnheit des Bequemsehens wird der menschliche Sehnerv so
abgestumpft, dass er den Reiz und die Verhältnisse der Farben
und Formen nur noch wie hinter einem Schleier erkennt. Den
experimentalen Beweis dafür gibt das allen Künstlern bekannte
Phänomen, dass Fernsichten, ein Sonnenuntergang, ein duftiger
Gebirgshintergrund unaussprechlieh gewinnen und eine Schärfe der
Umrisse, eine F arbenglorie annehmen, die sie uns als einer andern
Welt, einer höhern Schöpfung angehörig erscheinen lassen, wenn
wir sie verkehrt, etwa durch die Beine hindurch, betrachten.
Etwas ganz Analoges kommt den Bildern zu Gute, die mit etwas
ungewohnter Haltung des Kopfes angeschaut werden; ganz derselbe
Zauber wird durch das Fremdartige der Auffassung über sie er-
gossen. Ausserdem soll man ein gutes Bild nicht zu lange an-
glotzen. Du hast mit einer Anschauung genug, die so lange währt,
bis der Nacken ermüdet. Hat dieser Zeit gehabt auszuruhen, so
ist das Auge auch wieder empfänglich geworden für Farbenkon-
traste und richtiges Verhalten der Töne und Formen zu einander. '
' Man unterscheidet zweierlei blarbenkontraste, den instantanen und
den nachwirkenden. Der erstere macht zwei Farben, die einander berühren
oder nahestehen, anders erscheinen, als sie das Auge auffasst, wenn es jede
für sieh allein betrachtet, und zwar verändert er sie nicht bloss qualitative,
sondern auch quantitative, d. h. er macht das Dunkle neben Hellem dunkler,
letzteres neben jenem heller erscheinen. So z. B. erscheint Grün neben Violet
jenes gelber, dieses rüther, als jedes für sich betrachtet; Gelb neben Grün spielt
in's Orangefarbene, dieses in's Blaue u. s. W. Der naehwirkende Kontrast
ist ein Reiz, der durch das Sehen einer Farbe der Netzhaut mitgetheilt wird
und sich dadurch kundgibt, dass man diejenige Farbe zu sehen glaubt, die
möglichst weit von der gesehenen entfernt liegt und den geraden Gegensatzzu
ihr bildet." S0 hinterlässt ein rother Punkt. etwas lange angesehen, in dem
weggewandten Auge ein gleiehgestaltetes Spectrum von grüner Farbe. Eine
Orangekreisiläche hinterlässt ein gleiches Bild von blauer Farbe u. s. w.
Bei langem Anschauen einer vielfarbigen Fläche, deren Effekt Illlf auf den
instantanen Kontrast berechnet ist, fangen die Farben an, die Wirkung des
naehwirkenden Kontrastes auf das Auge auszuüben, das somit das Gegentheil
der Farben sieht, die auf dem Bilde vorkommen, und diese Eindrücke auf an-
dere Punkte des Bildes überträgt, deren Lokalfarbe sich mit den von vorher-
gesehenen Farben herühcrgeschlepjiten Eindrücken im Auge vermischt. Sol-
eherweise entsteht der gemischte Kontrast, der zuweilen sehr konlponirt
ausfallen kann und zuletzt Alles grau erscheinen lässt. lliitte man z. B. eine