507
Nachdem aber erkannt ist, dass dergleichen das
Christenthum vorbereitende Sibyllen niemals existirt haben,
können sie dann noch Gegenstand christlich-künstlerischer
Darstellung sein?
S0 weit die Kunst im Dienst des Heiligen steht und
ihre Werke auf geschichtliche Wahrheit Anspruch machen,
gewiss nicht!
Doch lässt sich die Itunstvorstellung aufrecht erhalten,
wenn man eine Umbildung mit derselben vornimmt und
nur die Beziehung auf die Sibyllen als geschichtliche
Personen gänzlich fahren lässt, indem an die Stelle
der geschichtlichen Erscheinung eine ideale Wahrheit tritt.
Das darf ja nicht bestritten werden, dass das heid-
nische Alterthum mancherlei Hinweisungen auf das Christen-
thum enthält, am wenigsten freilich in sibyllinischer Orakel-
form, aber von prophetischer Bedeutung, in Wissen-
schaft, Kunst und Cultus, zumal als einem Theil des
letztern, in den Werken der tragischen Dichtung. Solche
Zeichen sind das Opfer der Antigene, das sie dem Ge-
horsam gegen „die ungeschriebenen Gesetze" bringt, und
in noch höherer Art die entscheidenden Momente im
Prometheus des Acschylus und dem Oedipus Koloneus des
Sophokles. Wenn nun diese das Alterthum überragenden
Ideen in menschliche Gestalt gekleidet und so dem pro-
phetischen Heidenthum Repräsentanten gegeben werden;
so ist die Darstellung begeisterter Seherinnen nach dieser
Auffassung, anstatt der Sibyllen, wohl ein würdiger Gegen-
stand der christlichen Kunst, wie es stets Aufgabe
der christlichen Wissenschaft gewesen ist, den Spuren
christlicher Weisheit und lauterer Gotteserkenntniss in der
vorchristlichen Zeit nachzugehen und sie in ihrem grossen
weltgeschichtlichen Zusammenhang, nach ihrem vorbe-
deutenden Gewicht zu würdigen.