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Der allgemeine Ausdruck der Sibyllen wie der Propheten 1)
ist Verlorensein in ernste Betrachtung und Hingebung
an göttliche Offenbarung und Eingebung: sie tragen den
Charakter über das Gewöhnliche der menschlichen Natur
erhabener Wesen und scheinen zurückstossend durch ihren
Ernst und ihre mächtigen Gestalten, wodurch aber ihr
Anblick das Gemüth mit heiligem Schauer und mit Be-
wunderung erfüllt. Dagegen hat Raphael?) den Sibyllen,
die er in der Kirche S. Maria della Pace im Auftrag des
Agostini Chigi malte, die höchste Anmuth gegeben, so
dass sie an Schönheit der Bildung jene Gestalten Michel-
angelds, ja sogar, wenigstens nach Vasari's Urtheil, alle
übrigen Werke Raphaels, als die schönste Arbeit unter
so vielen schönen, übertreffen. Es sind die Cumäische,
Persische, Phrygische und Tiburtinische Sibylle mit sieben
Engeln, wobei sich der Unterschied zeigt, dass während
Michelangelo die Sibyllen (denen er meist zwei Genien
beigegeben) in heiligen Büchern vertieft darstellt, Raphael
sie ihre Weissagungen von Engeln empfangen lässt. Die
Persische Sibylle schreibt auf eine ihr von einem Engel
dargereichte Tafel in griechischer Sprache den Spruch:
„er wird haben das Schicksal des Todes"; auf der Rolle
der Cumäischen Sibylle, welche der über ihr schwebende
Engel öffnet, lieset man: „die Auferstehung der Todten."
Ein anderer Engel hält eine Tafel mit der Inschrift: „der
Himmel umschliesst der Erde Gefäiss", dahin blicken
die Phrygische und die Tiburtinische Sibylle, zwischen
denen ein Genius steht, dessen Tafel die Worte enthält:
„ich werde öffnen und auferstehen"; über der letzt-
genannten Sibylle endlich schwebt ein Engel, auf dessen
1) Nach Platners Unheil, Beschreib. Roms II,
2) Vergl. Passavant Rafael von Urbino Tlx. I.
S. 165 M169.