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dahingestellt sein lasse, komme ich nur auf die Be-
hauptung zurück, dass man mir nicht berechtigt zu sein,
nicht einmal Grund zu haben scheint, von der im Mittel-
alter herrschenden Bedeutung der Sirenen in diesem Fall
abzugehn und zu einer entgegengesetzten überzugehn.
Auch an Kirchenstühlen sind die Sirenen, zumal in
späterer Zeit gebildet. Eine Sirene, die mit der Linken
ihren Schwanz, mit der Rechten einen Spiegel hält, ein
Bild der Eitelkeit, findet sich in der Bogenfüllung der
Rückwand eines der Chorstühle in der Kathedrale zu
Poitiers 1) aus der ersten Hälfte des dreizehnten Jahr-
hunderts. Mehr Beispiele bietet das funfzehnte Jahr-
hundert dar. An den Stühlen der Kathedrale zu Reuen
um 1467 erscheint dreimal eine Sirene 2), hier aus mensch-
licher und Vogelgestalt zusammengesetzt, und zwar nicht
bloss mit den Beinen und dem Schwanz (einmal mit dem
Schweif eines Hahns), sondern auch mit dem Leib eines
Vogels: einmal zeigt sie ein Herz, das sie in der Hand
hält, eine andere spielt die Harfe, eine dritte hält einen
Schild (der Gegenstand in der andern Hand ist abge-
brechen). Deutlich lässt sich die Sirene als Bild der
Versuchung erkennen an dem bischöflichen Stuhl zu Dais 3)
aus dem Ende des funfzehnten Jahrhunderts, an welchem
die Krönung der Maria vorgestellt ist, die h. Jungfrau
auf der Mondsichel stehend zwischen musicirenden Engeln:
unter ihr von Engeln bekämpft und hinabgestessen zwei
Teufel und zwischen diesen ein nacktes Weib, das in
einem Fischleib endigt, mit einem Apfel in der Hand,
153.
eine
1) Lassus bei Didron, Anna]. archdol. Vol. II. p. 50.
2) Langlois Stalles de la cuthödr. de Rauen p. 148. 151.
Pl. IX, 56. X, 64. XI, 68. Der Verf. nennt, die Figur
Chimära.
3) du Sommerard Les arts du moyen äge, Album, Sör,
Pl. XXVI.