382
durch Wohlklang ihrer Lieder die Hörer zu bezaubern
vermocht hätten.
Aber in der lateinischen Kirche des Mittelalters ist
die mythologische Vorstellung angeeignet 1); doch ist bei
diesem Uebergang mehreres modificirt worden.
Was zuerst den letzten Punkt, die Gestalt der Sirenen,
betrifft, so findet sich eine zwiefache Auffassung, welche
durch Zeugnisse des sechsten Jahrhunderts beglaubigt ist.
Die eine mit der antiken übereinstimmend spricht Isidorus
aus2): die Sirenen seien halb Jungfrauen, halb Vögel
gewesen, mit Flügeln und Klauen, von denen die eine
mit Gesang, die andere auf Flöten, die dritte auf der
Leier sich habe hören lassen; wodurch sie lockend die
Schiffenden in Schiffbruch gestürzt hätten. Die abweichende
Vorstellung enthält das Werk eines ungenannten Ver-
fassers über Monstra; ihm zufolge sind die Sirenen Meer-
Weiber, welche die Schiifenden durch Gestalt und Gesang
bethören: vom Kopf bis zum Nabel sind sie weiblich
gebildet, haben aber schuppige Fiscbschwänze, womit sie
stets im Strudel versteckt sind 3). Dieselbe Verschieden-
heit der Auffassung findet sich im zwölften Jahrhundert:
nach dem althochdeutschen Physiologus 4) (in dem griechi-
schen Original unter den Werken des Epiphanius werden
1) In einem Art. über die fabelhafte Naturgeschichte des Mittelalters
bei Wright The archueological Album T. I. wird auch von
den Sirenen gehandelt (s. Didron Annal. archeol. T. IV.
p. 210.); mir ist dies Werk aber nicht zugänglich gewesen.
2) Isidor. Orig. XI, 3, 30. aus Serv. in Virg. Aen. V, 864.
3) Anonym. De monstr. et belluis P. I. c. 8., zuerst herausgeg.
von Berger de Xivrey in s. Tradit. teratolog. Par. 1836.
p. 25.
4) Sowohl der reda umbe diu tier aus dem eilften, als der andern
Bearbeitung des Physiologus aus dem Anfang des zwölften Jahr-
hunderts, bei Hoffmann Fundgrub. I. S. 19. 25.