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den Geist, in welchem er sie auffasste und ausführte.
Indem er im Geist der Antike die mythologischen Ideen
erfasste, brachte er sie doch seinen Zeitgenossen gleich
als Urbilder ihrer eigenen Ahnungen zur Anschauung,
durch poetische Wahrheit der Gestalten die fernen Zeit-
alter verknüpfend. Darin liegt das Vorbildliche dieser
Schöpfungen, deren Eindruck vervielfältigt wurde durch
ihren Umfang, da nehmlich Raphael zuerst in einer Folge
von Bildern die Mythen des Alterthums von dem in der
Natur ausgegossenen Geist wie von dem Lauterungswege
der menschlichen Seele verführte, also die Gewalt der
Idee mit dem Reiz, den die Geschichte ausübt, verband.
In seiner Schule hatten dann solche Aufgaben weitern
Fortgang, doch ohne jenes Maass und Gleichgewicht,
wodurch der grosse Meister einzig dasteht. Giulio
Romano führte zwar auch beiderseitige Aufgaben aus;
doch sind die christlichen nicht recht kirchlich und die
heidnischen nicht recht antik: was die letztern betrifft,
so fehlte ihm eben so sehr die Tiefe als die Reinheit
der Gesinnung, um in den Geist des Alterthums einzu-
dringen und seine Mythen würdig zu reproduciren, denen
er äusserliche und sinnliche Motive unterlegte. Polidoro
aus Caravaggio dagegen sammt dem Maturino aus
Florenz war ganz dem römischen Alterlhum hingegeben;
"keine Vase noch Statue, kein Pfeiler und kein Bild, ob
ganz oder zerbrochenff, sagt Vasari, „das sie nicht nach-
gezeichnet und in ihren Bildern benutzt hätten": und so
kamen auch in ihren selbständigen Arbeiten überwiegend
antike Scenen, namentlich aus der Geschichte Roms und
dem Heroenmythus zur Darstellung. Diese Richtung
auf antike, vornehmlich mythologische, Gegenstände wurde
durch die Schule Raphaels auch nach andern Ländern
verpflanzt. Nach den Niederlanden durch Bernard
van Orley, einen unmittelbaren Schüler Raphaels, und