300
man einen Engel sieht mit einem Buche in der Hand;
unten aber erscheint ein Mann, auf einer Tonne sitzend
und mit einem Kruge vor dem Kopf, und ein Panisk, sitzend
und auf einer Hirtenflöte spielend, beide Figuren ein
Bild gemeiner Natur und Sinnesweise im Gegensatz gegen
den Text, mit welchem in [Tebereinstimmung der Engel
das übersinnliche Wesen abbildet 1).
Zumal in Frankreich hat man christliche Kunstver-
stellungen mit mythologischem Zierrath versehen, nicht
Ohne in arge Verirrungen zu gerathen. An der Kirche
S. Maclou zu Reuen, deren Bau um 1520 beendet ist,
sind zwei hölzerne Thüren mit Sculpturen 2), an welchen
Jean Goujon (i- 1572) mitgearbeitet hat: unter den
Verzierungen der einen bemerkt man zwei blasende Tri-
tonen und ein sirenenartiges Wesen, in Arabesken; an
der andern sind vier Pansfiguren angebracht, zwei der-
Selben in dem untern Hauptfelde, unterhalb der Figur
Christ-i, ithyphallisch. Weniger auffallend ist das noch
stärkere Vordringen des Heidnischen bei einer hölzernen
Thür im Museum Cluny 3), die aus dem Schlafzimmer der
Diana von Poitiers stammt: in diesen Sculpturen, im Stil
des Primaticcio und Maitre Boux, ist eigentlich umgekehrt
eine biblische Scene gemissbraueht, um heidnischen Vor-
stellungen sich zu fügen, ungeachtet jene die Mitte ein-
nimmt. Man sieht dort nehmlich die Verkündigung Maria
in einem Oval, welches von zwei nackten Figuren ge-
tragen wird, und auf welchem oben zu beiden Seiten
Venus und Mercur sitzen, die beiden letztern wohl
1) AIISSBTÖCII] ist zweimal ein kämpfender und siegreicher Hercules
vorgestellt, worauf ich später (S. 41.) zurückkomme.
2) du Sommerard Les arts du moyen äge, Album, Sörie IIl.
Pl. XVlII. XIX.
a) Ibid. Särie III. Pl. XXVI.