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die alten Christen vom vierten Jahrhundert kein Bedenken
fanden, den Heiland zu vergleichen, sich zum Muster
genommen. In demselben Sinn, aber scharfer bestimmt
und weiter reichend ist die Erklärung von Waagen 1):
diese idealische Art der Auffassung sei ohne Zweifel von
denen ausgegangen, welche von der antiken Religion zum
Christenthum übergetreten waren; denn einmal mussten
diese, von Alters her gewohnt, sich ihre Gottheit durch
die Kunst sinnlich zu veranschaulichen, sich ungleich eher
Zll einer Darstellung Christi entschliessen, als die aus
dem Judenthum zu Christen Bekehrten, welchen ihre alte
Religion jede Darstellung der Gottheit streng verbot:
alsdann aber mussten jene Heidenchristen, aus dem Kreise
ihrer Anschauungen heraus, sich Christus nothwendig
gleich dem Apoll oder Mercur, als eine jugendliche Ge-
Stalt vorstellen. Dagegen dem spätern Typus Christi
Scheine mehr eine Tradition seines wirklichen Aussehens
Zum Grunde zu liegen, worauf daher die Judenchristen
Wenigstens mittelbar Einfluss gehabt haben möchten. Da-
mit kommt, was den Charakter dieser beiden Typen und
den Ursprung des ersteren betrifft, auch das Urtheil von
Wilhelm Grimm 2) überein: wenn die ältesten Denk-
mäler den Heiland ohne Bart, in voller jugendlicher Schön-
heit darstellten, so sei das dem Geist der altgriechischen
Kunst, der darin noch fortdauerte, gemäss gewesen; auf
diese Weise habe das Idealische, wonach sie strebte, am
leichtesten erreicht werden können: in den Bildnissen
der folgenden Zeit sei durch den Bart das Besondere und
Menschliche schon angedeutet worden.
Ich glaube jedoch von dieser Ableitung abgehen und
1) Waagen Kunstw. und Künstler in Paris S. 196.
z) Wilh. Grimm Die Sage vom Ursprung der Christushilder.
Berl. 1843. S. 49.