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ehe sie organisch angeeignet waren und ihre umbildende
Kraft erweisen konnten. Denn das ist doch erst die reife
Frucht antiker Vorbilder und die einzige Parallele, m
welche die christliche Kunst mit der antiken treten kann,
nicht dass sie abgeschrieben werden, sondern dass wie
die vollendeten Gestalten der alten Kunst aus dem Geist
des Alterthums geboren sind, so die Werke der christ-
lichen Kunst von dem Geist des Christenthums beseelt
und die Formen von der Idee getragen seien.
Dies zu verwirklichen war jedoch erst einer späteren
Zeit vorbehalten. Selbst die Aneignung formeller Typen
blieb damals eine vereinzelte Erscheinung. Erst zwei
Jahrhunderte später kommen sie an die Tagesordnung.
Das ist freilich eine Zeit, in welcher (mit dem Aus-
gang des Mittelalters) der Geist des heidnischen Alterthums
Selbst wieder auflebte. Daraus auch mögen sich Erschei-
nungen erklären lassen, welche beweisen, mit wie wenig
Wahl man mitunter Gestalten des Alterthums herausgriff.
So ist der Gebrauch auffallend, der von der Figur der
Diana an dem bronzenen Grabmal Sixtus IV. in der
Peterskirche (in der Kapelle des h. Sakraments) gemacht
iSt, welches Antonio Pollajuolo , ein trelflicher Bildgiesser,
Goldschmid und Maler von Florenz, im J. 1493 ver-
fertigte. Dort ist nehmlich unter andern personificirten
Figuren die Theologie angebracht, wie die Ueberschrift
Husweiset, und zwar in Gestalt jener Göttin als eine bis
an den Schenkel entblösste Frau mit Bogen und Köcher.
Diese Bildung ist von Winckelmann als eine Unge-
reimtheit gerügtl). Sie wird jedoch einigermaassen be-
greiflich durch die Bemerkung 2), dass man damals zuweilen
antike Figuren nachzuahmen pflegte, ohne sich um die
NL
Winckelmann Vers. einer Allegorie W. II.
Fernow zu Winckclmann a. a. O. S. 682.
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