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diese seit dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung,
die Steifheit der Glieder und die Starrheit der Gesichts-
züge lösend, die Wahrheit naturgemässer Kunstschöpfungen
erzielte bis dahin, dass in den Göttergestalten selbst
individuelle Vorbilder nachgeahmt wurden 1); so trat für
die christliche Kunst im 13. Jahrhundert mit Aufgebung
des symbolischen Standpunkts und des typischen Charak-
ters ihrer Bilder die Richtung auf natürlichen Ausdruck
ein 2), es traten an die Stelle heiliger und göttlicher Cha-
raktere menschliche Handlungen und Affekte, zu deren
Darstellung vornehmlich Giotto 3) und ihm nachfolgend
Taddeo Gaddi die Malerei hinübergeleitet hat, während
Stefano, Schüler des Giotto, in Nachahmung der natür-
lichen Erscheinung es dahin brachte, dass er den Bei-
namen der Affe der Natur erhielt 4). So wurde aus dem
Christuskinde, welches bis dahin in übermenschlicher
Würde, segnend, mit der Weltkugel in der Hand darge-
stellt war, ein natürlicher Knabe, kindlich spielend, mit
einem Apfel oder einem Vogel in der Hand, und aus
dem ehrfurchtsvollen Verhältnisse der Jungfrau zu dem
Sohne Gottes das zärtliche Verhältniss einer Mutter zu
ihrem Kinde 5). Dazu kommt die individuelle Durch-
1) Wie Praxileles die Cnidisehe Venus in Gestalt der Kratinu bil-
dete, nach Clem. Al. Cohorl. ad genL. c. 4. p. 47. ed. Poll.
(O. Müller Handb. der Archäol. der Kunst S. 127. A. 6.
S. 125); daher Gregor. Naz. Carm. de virtute v. 861. Opp.
T. II. p. 458. den alten Künstlern verwirft; dass sie die Aphro-
dite ihren Hetären nachhildeten.
2) Mit dem Unterschied, dass die mittelalterliche Kunst zuerst dem
Gesicht, die griechische Kunst aber zuerst dem übrigen Körper
naturgemiisseren Ausdruck gab; vergl. Thiersch a. a. O.
241 Anm.
3) Bumohr Italien. Forschungen Th. II. S. 56. 213 f.
4) Vasari Leben der Maler Th. I. S 195.
S) Didro-n Anna]. archeol. Vnl. I. p. 218 sq. 220. 222.