Volltext: Mythologie der christlichen Kunst von der ältesten Zeit bis in’s sechzehnte Jahrhundert (Bd. 1, Abth. 2)

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2. Zu derselben Zeit, da die Heiden mit religiöser 
Scheu, wenn auch in fanatischer Verirrung, das Erdbeben 
betrachteten, finden wir auf christlicher Seite eine mythische 
Erklärung desselben: jedoch nur bei einer häretischen 
Secte, die in mehrfacher Hinsicht eine Grenzstellung 
zwischen dem l-leidenthum und Christenthum einnimmt. 
Das sind die Manichäer, von deren Neigung, überirdische 
Scenenumythisch zu gestalten, wir schon früher ein Bei- 
spiel gesehen haben (S. 393.). S0 haben sie auch eine 
unterirdische Scene gedichtet I): sie lassen die Erde ge- 
tragen sein von dem Omophoros  wie Atlas bei den 
Alten nicht bloss als Träger des Himmels, sondern auch 
der Erde gedacht wird 2); dieser Omophoros wechselt 
regelmässig die lasttragende Schulter, aber auch ausser 
der Zeit, wenn er vom Tragen ermüdet ist, zittert er: 
und so verursacht er das Erdbeben. 
Das ist jedenfalls ein malerischer Gedanke. Ein 
künstlerisches Motiv lässtlaher auch Chrysostomus, der 
grosse Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts zu, indem 
er diese Naturerseheinung personificirt. Denn von dem 
Erdbeben zu Antiochien, welches drei Tage gedauert 
hatte, sagt er in einer Predigt 3): es sei gekommen wie 
ein Herold allen zuvor zu verkünden den Zorn Gottes, 
gleich dem Jonas, der nach Ninive gesandt worden um 
Busse zu predigen. Und ein andermal, als ein Erdbeben 
daselbst zwei Tage angehalten, führt er es redend ein 4): 
1) "Acta disput. Archel. cum Manete c. 7. (Epiphan. Haares. LXVI. 
c. 27.) Vergl. Beausobre Hist. de Manichöe T. II. p. 370 sqq. 
Walch Hist. der Ketzer. Th. I. S. 759. Baur Gesch. des Manich. 
S. 79. 294. 321. 
2) G erhard Ueher Atlas den Erd- und Hinnmelsträger, Philos. hist. 
Abhandl. der Akad. zu Berlin. Jahrg. 1836. S. 284 if. 
3) Chrysostom. In terrae motum et Lazar. Hom. VI. c. 1. 
Opp. T. I. p. 773. c. 
4) Id. Hom. de terrae motu Opp. T. II. p. 719. h.
	        
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