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aber ohne die Sichel (die man zur Andeutung des Mondes
erwarten würde), auch ohne Strahlen; sie hat langes wehen-
des Haar, welches bis tief in's Gesicht hinabreicht, so dass
davon ihre Augen wie von einer Binde bedeckt werden.
Deshalb wird sie auch von dem Tage, der mit der Rechten
ihre Linke gefasst hält, geführt. Dies Motiv übrigens,
die Nacht mit verbundenen Augen darzustellen, welches
im klassischen Alterthum keinen Vorgang hat, findet sich
schon in einem altern Miniaturbilde, von welchem bald
die Rede sein wird. In erhobener Arbeit ferner ist die
ganze Scene des ersten Schöpfungstages ausgeführt in
einer eigenthümlichen, etwas dunkelu Darstellung auf dem
silbernen Kreuz der Laterankirche 1): oben erscheint in
halber Figur Gott Vater, von dem der heilige Geist in
Gestalt der Taube ausgeht, um über dem Wasser der
Tiefe zu schweben. Dieses ist durch horizontale Streifen
bezeichnet, in denen zwei Hügel sichtbar sind, vermuth-
lich eine Andeutung der Veste: zu beiden Seiten derselben,
mit halbem Leibe im Wasser stehend, sind zwei nackte
Figürchen in einer Mandorla gebildet, wahrscheinlich Tag
und Nacht, und einander in dem Sinne gegenüber-
gestellt, dass die eine aus dem Wasser sich erhebt,
während die andere in dasselbe untertaucht.
Mit Sicherheit sind diese Personilicationen zu erkennen,
zu denen noch die des Lichtes und der Finsterniss hin-
zukommen, sännntlich durch lnschrilten bezeichnet, in
einem merkwürdigen Doppelbilde zu Anfang einer Bilder-
bibel aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts in der
Bibliothek Lobkowitz in Prag i). Das obere Bild zeigt
Ciampini Vet. Monim. P. II. p.44. Tab. X. fig. 2. Eine Scene
von der Kehrseite dieses Kreuzes ist oben S. 125. Anm. 2. an-
geführt.
Q) Waagen im Deutschen Kunsbblatt, 1850. N0. 19. S. 148.