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Dies Götzenbild scheint aber nicht bloss den Tod zu be-
deuten, sondern die heidnische Gottheit nachzubildcn,
die zwar dem Christenthum hat weichen müssen, aber
als dämonische Macht fortwirkt (wie überhaupt die Götter
der Heiden für Dämonen gehalten wurden) und in der
winterlichen Jahreszeit ihre Herrschaft behauptet; sie
erscheint als feindliche Naturgewalt, der auch das mensch-
liche Leben preisgegeben ist, das sich aber ihrer
erwehrt.
Ganz im Gegentheil ist in eben diesen Gegenden
der Sommer als Repräsentant des üherwundenen Heiden-
thums, wie es scheint, aufgefasst und auch dargestellt
worden, in einem merkwürdigen Miniaturbilde aus dem
Anfang des 12. Jahrhunderts. Dasselbe befindet sich auf
dem Titelblatt einer Handschrift des unter dem Namen
Mater verborum bekannten, mit böhmischen Glossen ver-
mehrten Glossars, welche von dem Maler Miroslaw mit
Miniaturen geschmückt ist, die eine geschickte Nach-
ahmung byzantinischer Vorbilder erkennen lassen, und
im Vaterländischen Museum zu Prag aufbewahrt wird. Es
ist die Initiale A, verziert mit phantastischen Gebilden
und dämonischen Gestalten l): man erblickt in derselben
eine weibliche, oben unbekleidete Figur, welche zwei
Pflanzen hält, mit der Umschrift: Estas, Siwa. Siwa,
welche hier dem Sommer gleich gesetzt wird, ist in der
slavischen Mythologie die Göttin der Fruchtbarkeit,
wie sie unter den Glossen der Mater verborum der Ceres
verglichen wird 2): etymologisch ist die andere Erklärung
durch diva, dea wohl berechtigt und ein Zusammenhang
mit dem indischen Mythus nicht zu verkennen. Ueber
1) Wo cel Grundzüge der hühnnischen Altenhmnskunde S. 8.
Waagen im Deutschen Kunstblatt 1850. N0. 17. S. 130.
2) Siva, dei frumenti, Ceres; Siva, diva, dea. Wocel a.
S. 8.