Anrede.
Schönheitsideal.
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Jeder adlig geborene Mann hatte Anspruch auf den Namen Herr
(dominus); war er noch jung, hatte er besonders noch nicht die Ritter-
würde erlangt, so hiess er Jungherr (domicellus, afr. damoisel, danzel).
Ebenso wurde jede Dame adligen Standes, ob verheirathet oder nicht,
gleichviel, Frau (vrouwe, mlat. domina, fr. dame) genannt 1); solange
sie noch jung ist, heisst sie Jungfrau (juncfrouwe, mlat. domicella, afr.
damoiselle, danzelle), zumal wenn die Mutter des Gemahles, die dann
altvrouwe genannt wird2), noch lebt. Ein Mädchen kann also die
Maitresse eines Ritters sein, es kann längst in der Ehe leben, Kinder
haben und doch heisst es noch immer Jungfrau 3). Was wir nach
heutigem Sprachgebrauch Jungfrau nennen, drückt man damals mit
dem Worte maget (afr. puciele) aus; dem gegenüber steht die Be-
zeichnung Wip. Durch die Vollziehung der Ehe wird eine maget
zum Wip.
Die Heldinnen und Helden unsrer Romane sind immer sehr schön;
wie sie alle denkbaren guten Charakter-Eigenschaften haben, so er-
freuen sie sich auch einer tadellosen Schönheit der äusseren Er-
scheinung. Die bösen Menschen, die in den Erzählungen vorkommen,
sind dagegen von Grunde aus verderbt und auch in ihrer Gestalt durch
auffallende Hässlichkeit gekennzeichnet. Durchschnittsnaturen, ebenso
wie massig hübsche alltägliche Erscheinungen werden weder in der
Poesie noch von der bildenden Kunst uns vorgeführt. Es ist daher
leicht, wenn man die Schilderungen der schönen Frauen und Männer
zusammenstellt, zu ermitteln was damals für schön galt, ebenso wie
man feststellen kann, was man für unschön und hässlich erachtete.
Ich habe über diese Fragen ausführlich gehandelt in meiner Habili-
tationsschrift, die ich 1866 unter dem Titel „quid de perfecta corporis
humani pulchritudine Germani saeculi Xll .et Xlll senserint" ver-
öffentlichte, da die Belege zusammengestellt und kann mich daher
wohl der Mühe übel-heben, dieselben hier noch einmal vorzuführen.
lm Allgemeinen galt damals für schön, was auch dem Römer und
Griechen, was ebenso uns heute noch so erscheint, indessen ist man
1) Die Gattin des Meisters Erwin, des Baumeisters des Strassburger Münsters,
war sicher adliger Herkunft, du sie auf ihrem Grabsteine ausdrücklich dominzi
Husa, genannt ist.
2) S0 heisst Mai u. Beaü. p. 130, 28 die Schwiegermutter der Bääiilor die alt-
vrouwe.
3) z. B. Alphart 108: Dar kom ein juncvrouwe, diu hiez Amelgart die
mahnt Alpharb, bei ihr zu bleiben, denn ihr Vater 109: „Er gap mich dir ze wibe,
Wem wiltu mich län."