Volltext: Geschichte der liturgischen Gewänder des Mittelalters oder Entstehung und Entwicklung der kirchlichen Ornate und Paramente in Rücksicht auf Stoff, Gewebe, Farbe, Zeichnung, Schnitt und rituelle Bedeutung nachgewiesen und durch zahlreiche Abbildungen erläutert (Bd. 1)

In Betracht der Innigkeit und Gefühlstiefe dieser anspruchs- 
losen Darstellung, in Rücksicht der Kindlichkeit und Gcmüthlieh- 
keit, die sich in der Auffassung der Figuren und in der ganzen 
Situation derselben zu erkennen gibt, haben Solche, die Gelegen- 
heit hatten, in lillorenz, in Siena die frommen Leistungen eines 
Fiesole auf dem Gebiete der Staffelmalerei zu bewundern, zugege- 
ben, dass das vorliegende Gewebe jener merkwürdigen Kunst- 
epoche anzugehören scheine, wo die Nachfolger eines Fra Ange- 
lico sich bestrebten, bei dem Malen von irdischen körperlichen 
Gestalten den Ausdruck des Ueberirdischen, des höhern Geistigen 
nicht zu vergessen. 
In Bezug auf das Technische des vorliegenden Gewebes ga- 
ben ausgezeichnete Fachkenner in Lyon ihre Erklärung dahin ab, 
dass es auch der heute so weit fortgeschrittenen Jacquard-Vi-Teberei 
kein Leichtes sein würde, eine Bildweberei zu erzielen, die den 
höhern Anforderungen der Kunst in ästhetischer wie in technischer 
Beziehung so vollkommen genüge. 
Da unsere Absicht im Vorstehenden nur dahin geht, den ge- 
schichtlichen Entwiekelungsgang der YVeberei nur in so fern zu 
beleuchten, als sich dabei gewisse Anhaltspunkte für die Chrono- 
logie der liturgischen Gewänder, ihre stoffliehe Anfertigung und 
die WVahl der darin vorkommenden Zeichnungen ergeben, so ge- 
stattet die Anlage dieses Handbuches es nicht, naher auf die kost- 
baren Stoffe und ihre Beschaffenheit einzugehen, wie sie von der 
selbstständig gewordenen italiänischen Industrie für den Profan-Ge- 
brauch im XIV. und XV. Jahrhundert angefertigt wurden. 
Bei der herrschenden Vorliebe für scenerirte Zeuge in der 
angedeuteten Kunstperiode nehmen auch die Luxusstoffe für Feier- 
kleider und Prachtgeivänder der Grossen bildliche Ornamente an, 
und es spielen in diesen Seidengeweben kleinere Abbildungen von 
Wappen, Kampfseenen und Tournieren eine grosse Rolle; auch 
Darstellungen aus dem Bereiche der „zarten Minne" und auch 
wohl erotische Bilder, die eine gewisse Lascivität des damals schon 
üppig gewordenen Ritterthums verrathen, gehören in diesen Ge- 
weben nicht zur Seltenheit. Am häufigsten aber kommen, wie 
schon früher bemerkt, religiöse Darstellungen als wiederkehrende 
Ornamente in Seidengeweben vor, die die versehiedenartigste An- 
Wendung im öffentlichen und Privatgebrauehe fanden. Kirche und 
Leben standen im Mittelalter in engster Wechselbeziehung und das 
specifisch kirchlich-religiöse Element hatte den ganzen Menschen 
in einer Weise ergriffen, dass alle seine soeialen und politischen 
Verhältnisse von demselben durchdrungen waren; auch die Kunst
	        
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