durfte es noch lange Zeit, ehe Europa von der einfachen mecha-
nischen F abrication glatter Seidenstotfe zu der mehr künstlichen
Production von figurirten Seidengeweben übergehen und eine
solche Menge von Zeugen liefern konnte, wie es eines Theils der
steigende Luxus, andern Thcils der bereits entwickeltere christliche
Cultus, zu liturgischen Zwecken, beanspruchte. Dass auch bereits
im VII. und VIII. Jahrhunderte bedeutende Scidenwirkereien in
Aegypten (Alexandria), in Syrien (Antiochien und Damascus), in
Arabien und Kleinasien bestanden, geben wir unbedingt zu, indem
diese Länder, gleichwie die obenerwähnte Insel Coos und Cypern,
ebenfalls die Rohseide aus den östlichen Provinzen Asiens (Assy-
rien, Indien) durch persische und phönizische Schiffe bezogen und
für den Handel in Stoffe verarbeiteten. 1)
Welche waren nun die Hauptstapelplätze für Seidenzeuge im
frühesten Mittelalter, und durch wen und auf welche Weise ge-
langten die kostbaren Producte des Orients auf den Markt des
Occidentes. Der bekannte Mönch von St. Gallen gibt uns als Er-
wiederung auf die letzte Frage an, dass bereits zur Zeit CarYs des
Grossen die Venetianer den Handel mit Seidenstoffen in Händen
hatten und dass sie aus den Ländern "über Meer" alle Schätze
des Orients herbeiholten. 1) Aber auch Griechen, von jeher schlaue
Handelsleute, und insbesondere syrische und phünicische Juden
betrieben um jene Zeit einen ausgedehnten Handel mit kostbaren
Seidengeweben.
Dass die Kinder Israels schon damals ihre gewaltige Vorliebe
für Handelsgeschäfte nicht verleugneten, geht aus einer andern
Erzählung desselben Mönches hervor, worin er angibt, dass Carl
der Grosse einem seiner Hofleute, der Sammler von Curiositäten
war, einen Streich spielen wollte. Man fand nämlich einen Juden,
l
i) Durch diese Annahme wird das geschichtliche Factum der Absendung zweier
Mönche nach Indien durch Kaiser Justinian in keiner Weise alterirt, indem
ja. heute nochnlie grossen äeidenmanufacturen zu Lyon, Crefeld, Elberfelsl,
des Rohmaterial von auswarts, aus Itahen, der Levante ete., in grossen
Quantitäten beziehen und zu verschiedenen Geweben verarbeiten.
2) Bei der nämlichen Gelegenheit erzählt uns derselbe Benedictiner von St.
Gallen die bekannte Anekdote, die Zeugniss ablegt von der Einfachheit des
grossen Kaisers: „Erat enim imblifera. dies et frigida et ipse quidem Carolus
habebat pellieium herbieinum Ceteri vero, ut potc feriatis diehus et qni
modo de Papia venissent, ad qnam nuper Venetici de transmairinis partibus
01111168 Orientalium divitias advectassent, Phoenicumque pellibus avinm Sericu
eircumdatis et pavonum collis cum tergo et clunis mox Horeseere incipienti-
busv iryrla- Pürpura, vel diaeedrina litra decoratis, alii de lodicibus, quidaxn
de ghTibllS Circumamicti procedebant etc. Monach. San. gall. lib. II, de re-
bus bellicis Caroli magni cap. XXVII.