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Bei der Seltenheit von Seiden- und Goldstoffen von der er-
sten christlichen Zeitrechnung bis zum Beginne des VII. Jahrhun-
derts ist es erklärlich, wenn erst in der letzten Hälfte des VII.
Jahrhunderts Anastasius in der Lebensbeschreibung des Papstes
Benedict II. a. C. 684 bloss gelegentlich im Vorbeigehen von
einzelnen kostbaren Stoffen und Geweben spricht.
Bei den Päpsten aus der letzten Hälfte des VIII. Jahrhun-
derts von Hadrian a. C. 772 bis zum Antritte des Pontiücates
Hadrianfs II. S67 macht sich Anastasius in der Lebensbeschrei-
bung eines jeden der 12 Päpste, dessen Regierungszeit innerhalb
des angegebenen Zeitraumes fallt, ein weitläufiges, den Leser fast
ermüdendes Geschäft daraus, die Zahl, den Stoff und die Dessins
jener kostbaren Gewebe anzugeben, die in so grosser Menge und
zu so vielen decorativen kirchlichen Zwecken von den Päpsten
dieser Periode den Kirchen Roms und Italiens als Weihgesehenke
verehrt wurden.
Fragt man nun, nachdem Anastasius in Bezug auf "Webeart,
Farbe und Zeichnung der Seidengewebe vor dem X. Jahrhunderte
in etwa Auskunft ertheilt hat, waren die Gold- und Seidenstoffe
mit figurirten Dessins, wie sie der gedachte Geschichtschreiber
massenweise anführt, gestickt oder eingewebt? so wird es schwer
halten, auf diese Frage eine bestimmte Antwort zu geben, indem es
dem Anastasius als gclehrtem Biograph gewiss sehr fern liegen
musste, bei den päpstlichen Schenkungen überall als Sachkenner
zu bestimmen, 0b der dieser oder jener Kirche gewidmete Pracht-
stoff in seinen mit Dessins ornamentirten Theilen ein Gewebe
(opus textile) oder eine Stickerei (acu pictum) war. Mit Grund
kann man annehmen, dass eine grosse Menge der angeführten, in
Stoffen dargestellten Sccnerien nicht einem opus textile, sondern
der Stickerei (opus phrygiculn) angehörten.
J n einem folgenden Capitel, das die Kunst des Stickens für
kirchliche Qrnate ausführlicher behandeln Wird, soll die eben an-
geregte Frage des Weitern erörtert werden. Hier liegt uns nur
noch der Punkt zur Untersuchung vor: welche Völker waren im
frühesten Mittelalter in dem Besitze des einträglichen Geheimnisses,
aus dem zarten Gespinnste der Seidenraupe kostbare Gewebe an-
zufertigen, und in welchen Ländern hat zuerst die Seidenfabri-
cation von der niedern Stufe des Handwerks sich zur Höhe gines
sehr geachteten Kunstgewerkes erhoben?
Um nicht Gefahr zu laufen, bei dieser Erörterung das vor-
liegende Capitel der geschichtlichen Entwickelung der Seidenindu-
strie auf Kosten der übrigen nachfolgenden Materien auszudehnen,