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realen Wirklichkeit und nicht der idealen, übersinnlichen Welt
entlehnt, mit naturalistischen F ormbildungen, wie sie am allerwe-
nigsten für liturgische Gewänder sich eignen dürften.
lrVas nun die Lage der Stickkunst in Deutschland betrifft,
so kann mit Recht und ohne Uebertreibung behauptet werden,
dass da, wo im Mittelalter die Stickkunst, als eine Tochter der
Kirche, ihre schönsten Triumphe feierte, sie auch heute in er-
freulichster Weise von ihrer jüngsten Erniedrigung in einem Auf-
schwungs begriHen ist, der zu den schönsten Erwartungen für
die Zukunft zu berechtigen scheint. Am Rhcinc sind es vor
allen die weiblichen Orden, in welchen die kirchliche Stiekkunst
ihre natürliche Zufluchtstättc gesucht und in neuester Zeit wie-
der gefunden hat. Dem Orden der Schwestern vom armen Kinde
Jesu, der in den letzten Jahren nicht nur am Rhein, sondern
auch in den übrigen Theilen Deutschlands eine rasche Verbrei-
tung gefunden hat, gebührt, wie das allgemein anerkannt wird,
das grosse Verdienst, dass er, bei einer lobenswerthen Thätigkeit
für Erziehung und Ausbildung armer Waisenkinder, auch die
kirchliche Stickkunst in besondcrn Schutz und Pflege wieder ge-
nommen habe.
Bereits vor einigen Jahren wurden im Mutterhause zu Aachen,
als noch die Modestickereien in WVollenstramin in dem übrigen
Deutschland ihre Verehrer zählten, Nadelarbeiten angefertigt, die,
an die edelern Vorbilder des Architekten Pugin anschliessend,
in besserer Technik wieder die Rückkehr zu den würdigen
Mustervorlagen des Mittelalters einschlugen. Einige Zeit dauerte
es jedoch, ehe die Schwestern vom Kinde Jesu in Aachen,
bei dem Suchen nach alten Originalstickereien die Verschieden-
artigkeit und Vielfachheit der Technik sich zu eigen gemacht
hatten, wodurch die schönen Nadelarbeiten des Mittelalters vor
den tändelnden Flitter- und Effcetstickereien der letzten Decennien
sich so vortheilhaft auszeichnen. Diese einleitenden Vorarbeiten
zur Wiederanknüpfung an die verloren gegangenen Fäden der
altern Stickweise sind im gedachten Kloster heute vollständig
durchgemacht, und sind von den geschickten Händen der from-
men Schwestern, die ihrer schönen Kunst nicht aus niedern
Rücksichten, bloss des Gewinnstes wegen, obliegen, in jüng-
ster Zeit Kunstwerke in Plattstich wieder zu Tage gefördert
worden, die, wie wir das hier zu behaupten keinen Anstand
nehmen, sich den schönsten Meisterwerken des Mittelalters auf
dem Felde der Nadelmalerei und Bildstickerei sowohl hin-
sichtlich der Composition als auch der technischen Ausführung