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man gewöhnlich „Styl" nennt, sondern das Ornament bricht diese
Fessel, ergeht sich in mztassltisen Freiheiten und ahmt dabei
nach mit mehr oder weniger Glück die Formen des griechischen
Akanthusblattes mit seinen bekannten Anhängseln; zuweilen er-
scheint auch in neuer Auflage jenes Lztubwerk, welches als ein stereo-
types, immer wiederkehrendes Ornament auf römischen oder grie-
chischen Vasen sich vorfindct, oder auf verwandten Ürnamenten,
wie sie in ponipejttnischen Wandmalereien und anderswo aus der
klassischen Cäsarenzeit herrührend, vorkommen. Der kölner
Dom besitzt noch eine reich gestickte Capclle, worin sowohl die
figuralen Stickereien in Geld als auch die angewandten Laubdecora-
tionen vollständig den Eintritt der Renaissance anzeigen ; jedoch las-
sen die vielen gesticktem Figuren in der Drzippirung der Gewänder,
vorzüglich aber in der lächandlting der Technik Nachklänge an
das Blittclalter noch deutlich durchblicken. Auch unsere Sammlung
hat eine grössiere Zahl jener reichern Goldstiekcreien mit figürlichen
Darstellungen in Plattstich atufztiweisen, die deutlich besagen, dass
gegen Mitte des XVI, Jahrhunderts die neuen Formen der Re-
naissance, die in ihrer affectirten Stylreinheit nur von kurzer
Dauer waren, sich vollständig auch in der kirchlichen Stickkunst
festgesetzt hatten. Die meisten dieser Stickereien scheinen uns
aus den berühmten lNIanufacturen Flanderns herzustammen. In
der Regel sind die geschichtlichen Scenen aus dem Leben des Hei-
landes und seiner Heiligen in llledaillons gefasst, die in Laubwin-
dungcn nach kurzen Zwischenräumen sich wiederholen. Die Technik
an diesen Nadelmalereien ist eine äusserst brillante und vorzügliche
und sind die sammtliehen Figur- und Laubwerkstickereicn über
dicht neben einander liegenden Goldfäden ausgeführt.
Um den Lesern dieser Blätter den nach Ablauf des Mittel-
alters zu Ansehen und Würde gelangten neuen Styl der Re-
naissance aueh im Bilde zu veranschaulichen, haben wir auf Tafel
XIX. die farbige Copie einer vortrefflichen Stickerei mitgetheilt, wie
dieselbe, wahrscheinlich den Apostel Bartholomaus veranschauli-
chend und aus der Mitte des XVI. Jahrhunderts herstammend, in un-
serer Sammlung vorkommt. Dieses kunstreieh gestickte Medaillons,
im grössten Durchmesser von 19 Centimeter, befindet sich mit
ähnlich gestickten Apostelbildern auf einem Grunde von rothem
genueser Sammet, auf welchem sich ein zierliches Rankenwerk
der Renaissance verzweigt. _Das eben gedachte Laubwerk ist aus
schwerer goldgelber Seide ausgeschitten und mit unterlegtem Papier
auf diesen Sammetstotf aufgeklebt; darauf hat dann der Kunst-
sticker die ausgeschnittenen und aufgeklebten Blätter-Ornamente